Karlsbader Klartext

Kaum jemand ahnt, was für ein trauriges Nachleben berühmte Dichter führen. Zwar stehen an vielen Orten Denkmäler von ihnen, aber welcher Mensch, der heute vorübergeht, weiß noch, wen er da vor sich hat? Endgültig qualvoll wird die Situation der Geistesheroen dadurch, dass sie, was kaum bekannt ist, in einem ihrer Denkmäler jeweils inkarnieren, sodass sie an dem betreffenden Ort persönlich mitkriegen, was die Nachgeborenen über sie reden. Bei Goethe ist es Karlsbad beziehungsweise die Büste am Ortsausgang, zweihundert Meter hinter dem Grandhotel Pupp. Herausfinden kann sowas nur die Wahrheitsdrohne, die auf ihrem Vorbeiflug an dem Denkmal blitzartig von einem Gedanken Goethes getroffen wurde.

„Deine läppischen vier Windrädchen hau ich dir ab und versklav dich als Buchstütze, du Fluggerippe!“

Stopp. Die Drohne legt den Rückwärtsgang ein und begibt sich direkt unter die himmelwärts verdrehten Dichteraugen. „Bitte was? Würden Sie das noch mal wiederholen?“

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„Ach, wie heiß es heute wieder ist, erlaubte ich mir zu bemerken“, schwindelt der Großgeist, ohne rot zu werden. „Na, Sie haben ja Ihre vier Ventilatoren dabei.“

„Und Sie haben das schattige Waldplätzchen. Vom hohen Sockel gejammert nenn ich das.“

„Rühren Sie nicht in der Wunde“, greint der Große weiter. „Ein Plätzchen fürwahr, um von der Welt vergessen zu werden. Schiller, zweihundert Meter weiter, hat einen Altar, auf dem man drei Ochsen braten könnte. Sechzehn Mal war ich in Böhmen, der Kerl kein Drittel so oft – ist das gerecht?“

„Dafür steht er für den erotischsten Moment der neueren deutschen Filmgeschichte, als Theresa Weißbach Matthias Schweighöfer fragt: ‚Und, Herr Schiller, wann kommen Sie wieder in die böhmischen Wälder?‘ (‚Schiller‘, D 2005) Sorry, Herr Geheimrat, sowas wie ‚Die Räuber‘ wirkt auf Frauen doch stärker als Ihre Marienbader Elegie.“

„Dem Beethoven, dem Flegel, haben Sie gleich den ganzen Waldrand gegeben. Wenn das der Kaiser wüsste.“

Die Drohne will auch mal was Nettes sagen: „Da steht er doch nur, weil er mit Bäumen besser kann als mit Menschen. Erinnern Sie sich noch, 1812? Als Sie beide sich erstmals begegneten in Teplitz, hier um die Ecke, und plötzlich der Kaiser auftauchte? Sie sofort beiseite und den Katzbuckel gemacht. Und Beethoven wie ein Panzer mitten durch das Gefolge – der Kaiser grad noch weggehechtet, sonst hätt der Irre ihn umgewalzt. So einen kannst du nur in den Wald stellen.“

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„Mein Wohnhaus an der Promenade nennt sich ‚Hotel Mozart‘, obwohl der Leichtmatrose da nie einen Fuß reingesetzt hat. Auf dem Nachbarhaus steht: ‚Goethe‘s Beerhouse‘. Dabei hab ich weder Bier getrunken noch Tabak geraucht hier. Brav jeden Morgen meine sechs Becher warmes Wasser getrunken hab ich und zwei Mal die Woche heilgebadet.“

„Und was war mit den Mädels? Mit der Ulrike zum Beispiel?“

„Ach, das geht doch keinen was an.“

„Genau das ist Ihr Fehler. Wortreich ausgeschwiegen haben Sie sich über Karlsbad.“ Die Drohne fliegt seitwärts zu einer Tafel und liest Goethe vor, was er geschrieben hat:

 

Was ich dort gelebt, genossen,

Was mir all dorther entsprossen,

Welche Freude, welche Kenntnis,

Wär ein allzulang Geständnis!

Mög‘ es jeden so erfreuen,

die Erfahrenen, die Neuen!

 

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„Aber was war es?? Keinerlei Auskunft geben Sie! Der Fontane in seinem Bad Kissingen war da genauer. Mit den drei Heilquellen fängt er an, aber dann kommt Klartext:“

 

Max, Rakoczy und Pandur

Thun immer die Hälfte nur.

Andere Sprossen auf der Leiter

Führen auf dem Heilsweg weiter:

Lindesmühle, Bodenlaube,

Unentwegter Saalwein-Glaube

Und das fränkische freundliche Wesen

Fügt den Schlußstein zum Genesen.

 

„Die Wirtshäuser mit Namen, das bevorzugte Getränk, erwiesene Freundlichkeiten … darunter kann man sich was vorstellen! Weswegen der Mann heute nicht auf einem Sockel herumsteht, sondern jedes Jahr zum Rakoczy-Umzug als lebendiger Grüßtheodor zweispännig durch die Stadt fährt und die Huldigungen der Bad Kissinger:innen entgegennimmt.“

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„Sind Sie bald fertig mit Ihren Demütigungen?“

„Gleich. Mein Besitzer ist auch Dichter. Der wurde vom heilkräftigen Karlsbader Wasser viel üppiger gesegnet als Sie. Ist morgens aufgewacht in seinem Appartement, schlaftrunken Richtung Bad getappt und – komisch – zwei Zimmer vorher schon bis zu den Knöcheln im Wasser gestanden. Hat die Augen aufgerissen: Aus der Küche kams gesprudelt, von unter der Spüle, seit vielen Stunden bereits, wie anzunehmen ist. Nachdem er den Haupthahn gefunden und zugedreht hat, war Ruhe. Und bis der Host in der Tür stand (zusammen mit der Nachbarin, deren Wohnung durch die Wand ebenfalls vollgelaufen war), hatte mein Gebieter schon eine Stunde das Wasser in einen Eimer geschippt und ins Klo, den Rest aufgeschrubbert, -gewischt, getrocknet. Nicht ohne als erstes ein Foto gemacht zu haben.

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Dann wurde im ganzen Haus das Wasser abgestellt. Der Mann musste ungeduscht und unverrichteter Morgengeschäfte raus in die pinkelfeine Stadt. ‚No water, no money‘, lautete sein Abschiedsgruß an den Host, der sich umgehend an die Reparatur machte.“

„Ja und dann?“ Goethe nimmt Anteil. „Was macht man in einem solchen Zustand an einem der mondänsten Orte Europas?“

„Ja was? Man erlebt den ultimativen Karlsbader Wassersegen! Läuft die Promenade runter, vorbei am Pupp, an Ihnen, an Schiller und Beethoven, raus aus der Stadt, steigt runter an das noch von keiner Stadt berührte oberste Tepla-Ufer, legt ein Handtuch bereit, entkleidet sich, holt das Duschgel aus dem Rucksack und badet sich zwischen den saubersten Steinen Böhmens so rein, wie man noch nie war. Das Ganze von niemandem gesehen oder geahnt, Stunden bevor die heilgeschäftige Stadt erwachen wird, von Busch und Baum verborgen noch vor dem ersten neugierigen Karnickel des jungen Kurparkmorgens.

Goethe ist berührt. Dann arbeitet es in seinem großen Kopf. „Eine Frage hätt ich noch. Das Geschäft konnte ja ebenfalls nicht erledigt werden. Wie – – ging das aus?“

Die Drohne bedauert, dass Drohnen nicht lachen können. „Da seien Sie ganz unbesorgt. Der Weg führte, wie Sie mit Schrecken vernahmen, an Ihnen vorbei und das Schreckliche hätte, wie Sie trefflich kombinieren, Sie treffen können – hätten Sie einen geräumigeren Standplatz, hinter dem ein Notdürftiger vor den Blicken möglicher Wanderer Schutz suchen könnte. Aber den haben Sie nicht. Den hat Ihr Kollege Schiller und so zuweilen, was uns am tiefsten kränkt, zugleich sein, wenn auch verborgenes, Gutes. Hinter Schiller hinwiederum sich etwas zugetragen, von dem auch das Werk, das mein Besitzer dem Vorfall gewidmet hat, schweigt:

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Baden in der und der

 

Ein Bad in der Tepla

nimmst du liegend

auf freundlichen Steinen

und um dich rum

fließt das Wasser der Tepla

wie das Wasser der Eva

um dich rum

in ihrem Schwitzkasten

nächtlich floss.

 

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Notgemeinschaft

Meine Mutter nannte es „eine Husche“: Zehn Minuten regnet es aus allen Himmelsstockwerken, dann kommt die Sonne raus und scheint, als wäre nichts gewesen.

Grad kam so was runter. Zehn Minuten sah man das Vorderhaus nicht mehr hinter der Sturzflut. Jetzt schöpfen alle gemeinsam das Niedergeschlagene aus dem Keller. Wir drei vom Hinterhaus – meine Frau, ich und der Sohn, der uns gerade besucht – packen mit an. Bring your own device. Jeder schaukelt seine privaten Eimer, Kehrschaufeln, Schrubber und Besen für das Gemeinwohl. Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Mieter, spricht das Haus im Kaiser-Wilhelm-Slang.

Ortskundliches abstract: Wir wohnen unterhalb eines Hangs, der vollständig versiegelt ist. Das Wasser von oben läuft in dem Kanal einer Straße zusammen: unserer. Von wo aus es das Ablaufventil unseres Vorderhauskellers mitsamt dessen Fassung raus- und sich auf knapp einen Meter Höhe in den Keller reingedrückt hat.

Die Nachbarin von links oben ist in ihrem Element. Also nicht Wasser, sondern Gemeinschaft. Vor Corona feierte sie jedes Jahr um die Zeit ihren Geburtstag als Hoffest. Seit drei Jahren tobt die Miniaturausgabe davon auf ihrem Balkon. Heute, im Wasser vereint, steht endlich wieder ein Großteil der Nachbarn zusammen auf gemeinsamem Grund. Bildlich gesprochen. Im Grundbuch steht natürlich Onkel Horst, unser Vermieter, und verbittet sich die Verbrüderungsanteile an der Nachbarschaftshilfe. Egal, meine Nachbarin wird zum Faust. In Gummistiefeln „mit freiem Volk auf freiem Grund“ stehend ruft sie im Keller ein neues, postcoronales Arkadien aus:

„Im Innern hier ein paradiesisch Land,

Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,

Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,

Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.“

Unsere Kehrschaufel ist allerdings besser als ihre. Zum Wasserschippen geeigneter. Unsere gleicht einer Doppelgarage mit Stiel vor der Einfahrt. Du schippst fünf Mal und der Eimer ist voll. Bei ihrer, der Normalausführung, muss man schnell sein, damit das Wasser überhaupt mitkommt. Wir leihen ihr unsere Schippe aus. Jeder leiht jedem alles aus. Jeder trägt für jeden oder läuft, ganz wie es kommt, ohne Anweisungen. Wie im Kommunismus. Man schaut höchstens, welcher von den roten Eimern den weißen und welcher den schwarzen Henkel hat. Für später. Und dass man beim Laufen zum Gulli an keins der dreizehn Autos stößt, die auf dem Hof stehen.

Der Nachbar rechts oben ruft seinen Sohn an und der kommt helfen (er wohnt drei Häuser weiter, muss man dazusagen). Jetzt helfen sein Sohn und mein Sohn in einem Haus, in dem sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr wohnen. Der Hausmeister ist aus Bosnien und hat ein schamanisches Wissen über Gewässerbewegungen. Konzentriert hockt er über der Wasseroberfläche und beobachtet Wellen, die wir Normalmietenden nicht sehen können. Die übrigen Ausländer aus dem Haus fehlen, da sie einer Berufstätigkeit nachgehen. Es ist eine recht deutsche Angelegenheit, was sich hier abspielt. Der Nachbar rechts oben missversteht das als Einladung zu der Diagnose: Was hier neuerdings wohne, sei asozial und habe keine Ahnung von Technik. Einer von denen habe das Ventil aufgedreht und jetzt hätten wir den Salat. Dass der Hausmeister widerspricht und erklärt, wie er das Ventil samt Fassung wieder in den Schacht zurückbauen musste, liegt daran, dass er aus Bosnien kommt, denkt mein Nachbar. Die Wahrheitsdrohne verrät mir das, kurz bevor sie aus dem Keller in die Nachbarschaft ausschwärmt, um mit dem Bericht zurückzukehren: Der hydraulische Kommunismus regiert die komplette Straße.

Ich schicke das Fluggerät zu Onkel Horsts Haus nachgucken, was unser Vermieter macht. Seine Tochter, die (noch) nichts zu sagen hat, schippt mit uns, steht knietief mit Leuten im selben Wasser, deren Vermögen neben dem ihren in keinem Diagramm der Welt sichtbar zu machen wäre. Ich erzähle ihr (warum, weiß ich nicht), wie es zum Bau des Vorderhauses überhaupt kam. Fünfzig Jahre mag das her sein. Die denkmalgeschützte Scheune, die hier stand, habe der Vater, wie er mir mal erzählt hat, abgerissen am ersten Urlaubstag des damaligen Denkmalschutzbeauftragten – eines Lehrers, wie Onkel Horst mit kindlicher Heiterkeit dreimal wiederholte.

Die Wahrheitsdrohne kehrt zurück und berichtet, Onkel Horst packe für drei Wochen Sylt. Wer oder was Sylt ist, weiß er seit zwei Jahren nicht mehr, geschweige denn, wie man da hinkommt. Aber den Zweieinhalbtonner, den er auf unserem Hof parkt, um bei sich Platz zu sparen, bewegt er täglich. Fürs Autofahren braucht Onkel Horst keinen Tauglichkeitstest wie für seine Cessna, die seit einigen Jahren am Boden bleiben muss. Ich frage die Wahrheitsdrohne: Wenn Onkel Horst in seinen SUV steigt und die Tür zumacht, wo ist er dann – seiner Meinung nach? Die Drohne weiß es nicht. Demenz schlägt künstliche Intelligenz.

Wir Wärmetauscher

Schon wieder mag ich eine Sache, die alle hassen. Warum bin ich immer anders und die anderen sind immer gleich? Das ist doch ungerecht. Aber ich sag erst mal, was es ist, das ich mag: Ich mag Hitze. Gleich der Aufschrei, sobald ich mich zu meiner meteorologischen Orientierung bekenne: Was, du magst es, dass wir aussterben? Hitze ist Völkermord! Vor allem ist Hitze eklig, da klebt doch alles! Die ganze Farbe läuft ins Gesicht und die Schokolade ist nicht mehr stückig, sondern braune, klebrige Schmiere an den Fingern, igitt!

Ja gut. Manche Sachen sind halt eher was für den Winter. Das heißt doch nicht, dass eine ganze Jahreszeit Scheiße ist, weil man da diese Sachen besser nicht macht. Hetzt irgendjemand gegen den Winter, weil man da beim Draußen schwimmen friert? Nein. Er und sie schwimmen einfach drinne. Flexibilität heißt das Baby. Offen sein für Veränderung.

Ich freue mich jedes Jahr zuerst darüber, dass es warm wird. Da sind ja auch die meisten noch dabei. Aber warum soll ich mich nicht weiterfreuen, wenn es heiß wird? Das ist derselbe Vorgang, nur intensiver! Meinetwegen freue ich mich auch, wenn das Thermometer im September mal unter fünfundzwanzig fällt. So für ein, zwei Tage. Viel länger hält meine Flexibilität allerdings nicht. Ganz schlimm finde ich, dass es irgendwann kalt wird. Und von da an finde ich das Schlimmste, dass es praktisch immer nur noch kälter und kälter wird. Daran möchte ich am liebsten gar nicht denken.

Muss ich auch nicht. Es sind sechsunddreißig Grad heute. Wolkenlos hat der Tag begonnen. Mittlerweile stehen die süßesten Wölkchen der Himmelskonditorei im Schaufenster. Vögel singen, als wären sie eigentlich Sänger, die na-du-weißt-schon-was machen und sich dabei so freuen, dass sie singen. Jede einzelne Blüte, jedes einzelne Blatt und vor allem alle Blüten und Blätter zusammen DUFTEN! Da helfen nur noch Kursiv und Versalien, sorry, Wörter kommen da nicht hinterher. Was ist denn hier los?? schreit die Nase ununterbrochen, kann nicht fassen, dass hinter der Fototapete Welt die geilste Parfümerie des Universums Monate lang gewartet hat darauf, zu explodieren. Die Menschen haben kaum was an und bei der einen Hälfte von ihnen fällt mir keine der Sachen mehr ein, die sie vor Wochen alle noch angehabt haben müssen. Ich möchte an diese Sachen am liebsten auch gar nicht denken.

Muss ich auch nicht. Denken ist ohnehin nicht die Hauptsache, die ich noch betreibe. Es gibt so vieles. Denken verdankt sich einem Mangel an Gegebenheiten, zwischen denen es assistierend vermittelt. Quasi um sie aufzufüllen. Wie französisches Nougat zwischen Pistazien. Sowas ist bei dem Angebot des heutigen Tages absolut überflüssig. Alles wirkt durch sich selber, erklärt sich selber oder gibt dir einen Kuss, nach dem du dich über jede Vorstellung von einer Erklärung nur noch kaputtlachen kannst.

Da kommt die Wahrheitsdrohne angebrummt, wirbelt hektisch mit den Rotorblättern und flüstert in mein Ohr: Sei still, aber sofort! Niemand empfindet wie du. Alle hetzen sie gegen die Hitze.

Ach so? Ja was hat man denn so, als kochende Volksseele, gegen die Hitze?

Also: Erst mal das, was oben in dieser Kolumne steht. Dann, dass es nicht deutsch sei. Deutschland habe ein deutsches Wetter gehabt und das neue Wetter sei aus dem Ausland nach Deutschland eingewandert. Ferner, dass die Ausländer überhaupt nie mehr weggehen werden, wenn sie auch noch ihr eigenes Wetter bekommen mitten in Deutschland. Dann, dass die meisten Deutschen bei dem ausländischen Wetter wegsterben werden und dies natürlich auch so geplant sei. Und schließlich, dass das der eigentliche Große Austausch oder Allergrößte Austausch von allen, ganz wie man wolle, sei: der Austausch des Wetters. Damit brauche man das Volk nämlich nicht weiter auszutauschen, da es erstens wegsterbe und zweitens innerlich nicht mehr deutsch sei, sondern ausländisch, sobald es sich gegen das fremde Wetter nicht mehr wehre, sondern dasselbe auch noch gut finde und darum: Halt die Schnauze von wegen „Ich mag die Hitze“ und den Scheiß. Petz die Augen zusammen, guck grimmig in die Sonne, schüttele drohend deine Faust und rufe aus: „Na warte, ihr da oben, das Volk sind immer noch wir. Das Wetter bestimmen immer noch wir. Für unser deutsches Wetter sind wir sogar bereit, unser Wahlergebnis an das Thermometer zu binden, derowegen rufet alle im Chor:

Durch Hagel, Kälte, Wind und Regen:

Der blitzeblauen Null entgegen!“

Vom Himmel gefallen: Kein Meister

Deutschland hat zum ersten Mal in der Geschichte der Fußball-Bundesliga keinen Meister. Was am letzten Spieltag auf dem Rasen zunächst anders aussah, entschied sich auf einer geheimen Sitzung des Präsidiums der Deutschen Fußballliga am Pfingstsonntag. Die eigentliche Entscheidung war wenige Zentimeter unterhalb des Rasens von Köln-Müngersdorf am Vortag gefallen. Aber der Reihe nach. Die Wahrheitsdrohne verfügt über alle nötigen Beweise, weshalb die Sensation hier exklusiv gemeldet werden kann.

Wie wir alle wissen, hatten zwei Vereine in der abgelaufenen Spielzeit versucht, auf keinen Fall Meister zu werden. Beide waren lange erfolgreich, wobei eine Nichtmeisterschaft nie allein in der eigenen Hand liegt, immer das Nichtversagen des Konkurrenten dafür benötigt wird. Die Erfolge des FC Bayern einzeln aufzuzählen, fehlt hier der Platz. Von Borussia Dortmund sei wenigstens an die Triumpfe in Bochum (1:1) und gegen Stuttgart (3:3 nach zweimal unbeabsichtigter Führung) erinnert. Am vorletzten Spieltag passierte es dann: Durch ein löwenstarkes Bayernversagen gegen Leipzig schlug der BVB zwei Punkte vor dem Konkurrenten auf. Das Debakel der Meisterschaft war kaum noch zu verhindern.

Bekannt ist der Verlauf des letzten Spieltags. Ein seitenverkehrter Robben-Move von Kingsley Coman – Grundschulaufgabe für jede Verteidigung – brockte den Bayern die Fernduellführung ein. Der BVB löste seine Aufgabe klar besser, als vor dem 0:1 zwei Dortmunder um die Wette vor dem Ball davonliefen, sodass Hanche-Ohlsen den Kopfball setzen konnte. Onisiwo wurde durch konsequente Mann-Nichtdeckung erfolgreich zum 0:2 eingeladen. Auf beiden Plätzen geschah von nun an das Gleiche (die Wahrheitsdrohne wusste nie, welches Stadion sie gerade überflog), Ballgeschiebe entlang der Strafraumlinie. Ein Unterschied vielleicht: Die Roten wählten die eigene, die Gelben die gegnerische Linie zum Schieben. In beiden Fällen waren eigene Treffer ausgeschlossen und dem Gegner jederzeit Tür und Tor geöffnet.

Zwischendurch gab es einen Elfmeter für Dortmund, obendrein noch berechtigt – Biene Maja in Not. Dabei ereignete sich eine von zwei Schlüsselszenen, die zur Deutschen Nichtmeisterschaft geführt haben. Die Wahrheitsdrohne enthüllt! Sebastien Haller, dem Elfmeterschützen, fallen vor den Augen von Millionen TV-Zuschauern plötzlich beide Augendeckel runter. Er tritt im Grunde blind auf den Ball und hätte trotzdem fast getroffen, aber Dahmen hält. Der Kelch beziehungsweise Pokal geht knapp am BVB vorbei. Plötzlich schwenkt die Kamera der sky-Bildregie zu einer verstörenden Szene auf die Tribüne: Matthias Sammer atmet erleichtert auf, beugt sich zu dem benachbarten Hans-Joachim Watzke und zieht dessen rechtes Bein von dessen linkem Bein herunter. Ganz langsam, damit wir es alle verstehen: Herrn Watzke scheint es trotz seiner vorgezogenen Totenstarre gelungen zu sein, eines seiner Beine über das andere seiner Beine zu schlagen oder, falls das nicht übertrieben klingt, regelrecht zu legen! Und Herr Sammer greift nach dem verschossenen Elfmeter nicht etwa an ein eigenes Bein, nein, er nimmt ganz deutlich und beinahe selbstverständlich das rechte Bein von Hans-Joachim Watzke, hebt es von dessen linkem Bein herunter und stellt es neben Hans-Joachim Watzke auf den Tribünenboden.

Halten wir die Spannung dieser Szene für einen Moment aus und schauen noch einmal auf den anderen Platz des Fernduells, nach Köln. Dort ist der FC die bessere Mannschaft und kann jeden Augenblick den für Bayern München erlösenden Ausgleich schießen. Die 73. Minute bricht an. Drei Kölner verabreden sich zu einem Konter und stürmen auf Jan Sommers Kasten zu. Da geschieht das Unfassbare. Im Köln-Müngersdorfer Rasen – wenige Meter vor dem Strafraum – schießen zwei Rasensprinkler aus ihren Versenkungen, rollen wild mit den Düsen und spritzen die Angreifer scharfstrahlig nass! Der Schiedsrichter pfeift ab, der Angriff misslingt und die Bayern führen weiter, ohne zu wissen warum.

Es fallen noch die restlichen Tore. Dann ist die Bundesligasaison zu Ende und Bayern München Deutscher Meister. Alles scheint wie immer zu sein. Auf der Bayern-Pressekonferenz lenkt man vom Fußball ab auf das Geistige. Thomas Tuchel spricht, nach ihm Uli Hoeneß über das von Tuchel Gesprochene: „Eine druckreife Ausdrucksweise. Das ist Bayern München. Er hat diesen Verein in zwei Tagen verinnerlicht.“ Die bei Borussia Dortmund versammelte Presse gratuliert Hans-Joachim Watzke zum Erreichen des Saisonziels und erinnert an dessen Aussage vor dem Spiel: Edin Terzic sei ein Mann, „der die Seele von Borussia Dortmund kennt“. Der FAZ-Kollege zitiert sich aus der Samstagsausgabe selbst: „Besondere Kenntnisse des Innersten des Arbeitgebers sind ja überall hilfreich.“ Auf welchem Weg er denn ins Innerste seines Arbeitgebers gedrungen sei, fragt er Terzic. Dessen Augen sind leer, der Blick ist tot. Als Antwort genügt das. In Dortmund sind alle zufrieden.

Bis der Pfingstsonntag anbricht. Hans-Joachim Watzke ruft das Präsidium der Deutschen Fußballliga zusammen und gesteht: Er hat den letzten Spieltag manipuliert. Der Geist Gottes habe ihm vor zwei Stunden befohlen die Wahrheit zu sagen.

Und die sehe aus wie folgt: Die Steuerung der Sprinkleranlage in Köln-Müngersdorf habe er persönlich gehackt. Aus seiner ersten Berufstätigkeit für ein Unternehmen, das Feuerwehrschläuche herstellt, verfüge er über einiges Wissen im Bereich Bewässerungstechnik. Mitgeholfen habe Edin Tersic, dessen Vater Schlosser gewesen sei und dem Sohn außer Fußballtricks auch technische Kenntnisse vermittelt habe. Die Stürmer des 1. FC Köln habe man gechipt und die Sprinkleranlage des Stadions so programmiert, dass per WLAN gemeldete Kölner Angriffe über einer bestimmten Harmlosigkeitsschwelle durch Ausfahren der Sprinklerköpfe gestoppt würden. Allein auf die eigene Unfähigkeit habe Borussia Dortmund sich dieses Jahr nicht verlassen können. Bayern München sei diesbezüglich zu einem echten Konkurrenten „herangereift“, wie Watzke sich ausdrücken wolle.

Dann müsse den Bayern die Meisterschaft aberkannt werden, befand man. Und weil Dortmund Urheber der Manipulation sei, könnten auch sie nicht Meister werden.

Genau, sagte Watzke. Und moralisch gehe das auch nicht, fügte er hinzu, weil nämlich er und Matthias Sammer einen Fluch über Sebastien Haller verhängt hätten vor dessen Elfmeter. Er, Hans-Joachim Watzke, habe sein rechtes (in übertragener Bedeutung: Hallers Schuss-)Bein über sein linkes Bein gelegt, wodurch die Schusskraft von Sebastien Haller blockiert worden sei. Das sei Voodoo, er habe das von einem Mentaltrainer des Vereins. Anschließend habe Matthias Sammer ihm geholfen, sein Bein wieder von seinem anderen Bein herunterzukriegen, was für die Wirksamkeit des Fluchs sehr wichtig, ihm aber wegen Altersbeschwerden nicht selbst gelungen sei. Matthias Sammer sei daher als Mittäter anzusehen.

Es sind immer drei

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Wenn die Vögel singen und der Holunder blüht, bereiten volljährige Teenager sich auf das Abitur vor. Genauer der aufstrebende Teil derselben. Die Wahrheitsdrohne fliegt irritiert zwischen rauchenden Köpfen einer Lerngruppe hin und her. Die Frühlingssonne wurde als Einladung missverstanden, sich im nasskalten Gras eines Parks niederzulassen. Wer eine Blasenentzündung kriegt, nimmt den Nachschreibtermin, notfalls den zweiten. Es geht ins schriftliche Deutsch-Abi.

Woyzeck hat eine Persönlichkeitsstörung, stellt Sarah fest. Wegen der Erbsen, erläutert Tobias. Mir schmecken die auch nicht, fühlt Berzan sich in den Protagonisten ein und will sein Urteil begründen: Kennt ihr Erbsensuppe? Alina bleibt bei der Persönlichkeitsstörung: Der dreht am Rad, weil die Alte ihm fremdgeht. Versteh ich sogar irgendwo. Alina hat sich von ihrem Freund getrennt, um besser fürs Abi lernen zu können. Ihr Exfreund lernt Mechatroniker, versteht nicht, was Abitur bedeutet. Leider wird Alina jetzt nicht zum „Ball des Heeres“ nach Berlin fahren, wo ihr Exfreund mit ihr tanzen wollte, bevor er zur Bundeswehr geht. Sarah hingegen hat ihren Freund noch. Der will zur Polizei. Mein Freund müsste diese Erbsendiät machen, ruft Sarah, weil man beim Lernen auch mal einen Witz macht. Vielleicht würde er dann den Body-Mass-Index der Polizei schaffen. Ja, macht der keinen Sport oder was? Doch, aber es reicht nicht. Schweigen. Pessimistische Vergewisserung: Mit Abitur kann man erst mal studieren und irgendwas wird man dann schon, sagen alle. Und man verdient besser.

Irgendwas mit Gesellschaft war da noch, mahnt Tobias. Die Gesellschaft ist auch schuld. Ja, weil da gabs diese Stände, pflichtet Alina bei. Der obere Stand hat die Unteren diskriminiert. Und was war noch mal dieser Pauperismus? Keine Ahnung, Sarah muss passen. Den hab ich schon in Geschi nicht kapiert, da kam der auch vor. Pauperismus bedeutet Armut, erklärt Berzan. Die Ernten waren schlecht und es gab noch keine Supermärkte, wo man das Essen von woanders kaufen konnte. Ich kapier nicht, warum wir diese uralten Bücher lesen, beschwert sich Sarah. Das betrifft uns doch alles gar nicht. Gibts denn keine neuen Bücher oder sind die alle zu schlecht oder was? Das sind Klassiker, bremst sie Berzan. Außerdem, wollen wir jetzt lernen oder über die Schule diskutieren? Genau, meint Tobias. Drei Gründe reichen normalerweise. Erbsen, Eifersucht, Gesellschaft. Auf, weiter. Was war los mit diesem Faust?

Schweigen. Faust ist dieses Jahr der Unbeliebteste. Man erlebt eine Zeitenwende, es herrscht Inflation und dann läuft da ein Professor her, ist verbeamtet, verdient sechstausend brutto aufwärts, vögelt eine Vierzehnjährige, aber heult von Anfang bis Ende nur rum.

Tobias sucht die nächste Trias: Faust macht drei Entgrenzungsversuche – welche sind das? Alina traut sich: Zaubern, Osterspaziergang, Teufelspakt. Was ist an einem Spaziergang entgrenzend? fragt Berzan. Keine Ahnung, Alina klingt beleidigt. „Vor dem Tor“ heißt das Kapitel, also vielleicht: Er geht durch ein Tor. Er geht aus der ollen Studierstube raus. Immerhin geht er mal vor die Tür. Macht er ja sonst nicht. Sarah will jetzt auch einen Witz machen: Und braucht nicht mal den Hund dafür, weil der Pudel ist ja schon draußen. Nee, Leute, Tobias ist unzufrieden. Magie okay, Teufelspakt okay, aber da war noch was Drittes. Suizid! ruft Alina. Wieso Suizid? zweifelt schon wieder Berzan. Das ist doch die Grenze, da kommt doch nichts mehr. Oder doch? fragt Sarah. Ach so, wie in Reli meinst du, denkt sich Alina fächerübergreifend hinein in Sarah und weiter bis in Faust und hört plötzlich aus der benachbarten Kirche den Kirchenchor, der für den Ostergottesdienst probt: Christ ist erstanden! O nee, greift Tobias an seine Stirn, können wir weiterziehen? Das nervt jetzt echt, wenn man sich konzentrieren will. Man packt die Sachen und zieht in den hinteren Teil des Parks, wo nur noch die Vögel singen, die ihren Text geheim halten.

Es kann aber auch ein Zeitungsartikel drankommen, schockt Alina die Mitlernenden. Ja, oder sieben verschiedene Zeitungsartikel, setzt Sarah noch sechs drauf: bei „materialgestütztes Schreiben“. Tobias fällt rücklings in Gras, reckt die Arme gen Himmel: Wer liest bitte im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Zeitung? Dann sitzt er wieder und berichtet von einer verstörenden Erfahrung: Ich hab die Woche dem Nachbarn seine aus dem Briefkasten geklaut. So vor dem Abi mal eine, dacht ich. Kein Wort hab ich verstanden, Leute, ich schwöre. Um lauter B-Promis gings da, die keiner kennt, die irgendwelche Sachen gesagt haben, die keinen interessieren und das Ganze nennt sich Politik. Nee, wenn das kommt, gleich in den Papierkorb.

Und wenn noch ne Gedichtinterpretation dabei ist?

Dann halt das dritte.

Speckgürtel

Der innere Frankfurter ist von einem unerklärlichen Alter, stellt die Wahrheitsdrohne fest, als sie die Überschrift einer Email der Polytechnischen Gesellschaft überfliegt: „Paulskirchen-Jubiläum – Zeitzeugen gesucht“. Viele Häuser in Frankfurt sind schön, weil sie aus der Paulskirchenzeit stammen, in der die Handwerker noch Muße hatten zu ihrer Arbeit. Von der Paulskirche aus fliegt die Wahrheitsdrohne konzentrisch in den Frankfurter Speckgürtel. Hier sind die Häuser von einer Hässlichkeit, die sie zur freistehenden Existenz zwingt, damit die Hässlichkeit zwischen ihnen Platz findet. Die Wahrheitsdrohne fliegt in den Gastraum eines Eiffler-Systembäckers und kreist über einem Ehepaar, das frühstückt.

Na, ich bring den jetzt mal weg. Er geht drei Schritte, dreht sich um: Zu viel des Guten. Guck dich mal um, was da noch kommt. Muss alles noch auf den Tisch drauf.

Nach drei weiteren Schritten bringt er die letzte Aktivität des Tages zu Ende. Es ist 11:40 Uhr Ortszeit. Er stellt den seiner Meinung nach überflüssigen Teller in das Fach einer Geschirrrückgabe, dreht sich um und schafft es mit nur fünf Schritten zurück auf seinen Stuhl.

Jetzt wird gegessen. Das gibt Sicherheit. Beim Essen kommt alles zu dir, du musst wenig machen.

Er isst jetzt. Das sieht sehr sinnerfüllt aus, bietet allerdings wenig Unterhaltung. Das Leben ist nicht zum Spaß da. Er will jetzt Verschiedenes haben. Servietten fehlen.

Ich geh mal Händewaschen, sagt sie, wird aber auf halbem Weg zurückgerufen. Da sind keine Servietten. Da hinten sind welche.

Ja, ich geh nur eben …

Er hat sich jetzt beinahe dreihundertsechzig Grad umgedreht, erst nach Servietten, dann nach ihr. Was soll er denn noch machen? Einfache Dienste sind sofort zu leisten. Macht sie auch. Ist ja kein großer Umweg, da sind die Servietten. Ja, sagt er. Da sind sie. Das Leben plant noch so viele Anschläge auf ihn heute, an Kleinigkeiten kann er sich da nicht freuen. Das muss ja noch nicht das letzte sein, was fehlt, sagt er, gespannt, ob sie sich davon festhalten lässt an seinem Tisch, an dem nichts los wäre, wenn sie auf dem Klo wäre.

Sie geht trotzdem. Das, weiß sie, hat keine Konsequenzen. Die kleinen Freiheiten sind das Lösegeld für ihre Persönlichkeit, die sie lange genug als Geisel genommen hatte, obwohl sie rechtmäßig ihm gehört. So oder so ähnlich hat er ihr das mal erklärt.

Der Andreas ist jetzt mit der Roxy zusammen, berichtet sie ihm als erstes nach ihrer Rückkehr. Ja gut, lautet die Antwort. Er muss halt aufpassen.

Die Roxy, sag ich dir mal ganz ehrlich, kann froh sein, was sie da gekriegt hat. Das hat die vorher ja noch nie gehabt.

Ich weiß.

Du musst auch mal das Haus sehen, das der Andreas gebaut hat. So über der Firma angefangen hat das im ersten Stock und nachher sind zwei komplett neue Häuser dagestanden auf dem Hof. Das bewohnt die jetzt alles mit. Wenn das mal gut geht.

Sicher. Das musste können, sonst ist in nem halben Jahr alles kaputt und kein Geld da zum Reparieren. Handwerker sind auch keine. Das Frankfurter Pack interessiert das nicht, die lachen über uns, aber das ist mir egal. Gib mir mal die Butter da. Die iss doch übrig.

Ja, vielleicht die Hälfte?

Mit halben Sachen wollen wir gar nicht erst anfangen. Gib mir mal den Salzstreuer.

Den hat der Vorige hier stehenlassen.

Na komm, wie der auch schon ausgesehen hat.

Aber jetzt haben wir nen Salzstreuer und müssen nicht aufstehen und einen holen. Sieh es doch mal so.

Das ist Zufall. Wenn ich da auch noch drüber nachdenken müsste, könnt ich gleich den Löffel abgeben. Gib mir mal die Wurst.

Es ist ein Geben und Geben wie im Kuhstall beim Melken. Er würde aber auch selber nicht drankommen an die Sachen. Wenn er die Arme ganz ausstreckt, kann er die Hände gerade auf den äußersten Wulst seines Speckgürtels legen. Das macht er manchmal. Dann sieht er angestrengt aus wie andere beim Arbeiten.

Der will jetzt das Bad neu machen, der Andreas. Ich weiß nicht, wie der das machen will. Vielleicht mit den grauen Fliesen, die hast du doch damals auch …

Nur für die Duschwanne.

Ja, richtig. Nee, für das andere sind die nichts, hast recht. Ja, sowas weiß der vielleicht gar nicht.

Jede Fettzelle war früher ein Alptraum, ist genau gesehen immer noch einer, der aber eingeschlossen im Fett seinen Schrecken in Bewegungslosigkeit getauscht hat. Seit der Gürtel ihn aus seinen Alpträumen rettete, bewegt sich nichts mehr in ihm. Er kann seine Kräfte darauf konzentrieren, dass sich auch außerhalb von ihm möglichst wenig mehr bewegt, jedenfalls nicht in seine Richtung. Außer Essen.

Es ist eine Krankheit, sagen alle, die ihn sehen, und bemitleiden ihn. Es ist das Beste für dich, sagte die Krankheit und befiel ihn. Die Liebe seines Lebens.

Was ihn wahnsinnig machen würde, wenn er es wüsste, ist, dass er in seinem Inneren wie Frankfurt ist: Wenn er sich umsieht von seinem Panzerturm aus, sieht er nicht sich, sondern immer nur den Speckgürtel um sich und das hat dazu geführt, dass sein Denken von seinem Speckgürtel übernommen wurde, während sein Inneres in eine immerwährende Abwesenheit gefallen ist und er es nicht mehr spürt.