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Die Paarversteherin

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© Ewart Reder

Im Haushalt tue ich, was ich kann. Was zugegeben nicht viel ist. Es geht aber nicht nur um das Was, finde ich, wichtig ist auch das Wie eines Tuns. Wenn ich zwei Adjektive nennen sollte, um die Art und Weise meiner Haushaltstätigkeit zu beschreiben, wären es „zuverlässig“ und „freudvoll“. Zuverlässig, weil ich, wenn ich das auch nicht mehr machen würde, als faul gelten könnte. Freudvoll, weil ich mich durch mein Tun minutenlang unangreifbar fühle. Aber ich sehe grad, die Spülmaschine möchte was zu dem Thema sagen:

Na ja, mich würde er eh im nächsten Satz erwähnen. Bin ich es doch, worauf seine Haushaltstätigkeit sich im Grunde beschränkt. Genauer eine Hälfte von mir: mich ausräumen. Wohin Geschirr und Besteck gehören, hat er auf rätselhafte Weise herausgefunden. Okay, nicht dass da nicht anschließend jedes Mal die obligaten Siebensachen noch rumliegen würden, die entweder angeblich neu oder deren Plätze angeblich seit je ungeklärt seien. Oder dass die Chefin nicht „zuverlässig“ ihre mindestens drei Ablageüberraschungen erleben würde jedes Mal. Aber gut, sehen wir es mal nicht so eng. Das macht er und das kriegt er irgendwie hin. Mich einräumen hingegen will die Chefin lieber selbst. Das mache er, wenn er es macht, auf so charakteristische Weise falsch, sagt sie, dass sie ihn dabei jedes Mal wieder kennenlerne. Was offenbar nicht ihre vorrangige Absicht ist. Dabei habe er doch seinerzeit, sagt die Chefin, das Auto, als man noch eins gefahren sei, so vorzüglich beladen jedes Mal vor der Urlaubsreise.

Ein Autokofferraum, wenn ich das einwenden darf, hat auch keine drei unterschiedlich hohen Fahrkörbe mit Features wie Klappstachelreihen für Teller, Tassenetageren, gezackten Kappenleisten mit Gläsersymbol und nicht zu vergessen Korbrollen, weil sonst die Dinger nicht fahren würden. In einen Kofferraum stellt man Sachen mehr oder weniger einfach rein. Wie übrigens auch in einen Geschirrschrank oder ein Tassenregal. Darüber hätte die Chefin mal nachdenken können: Warum kriegt er das hin? Was genau ist beim Mich-Einräumen das Kriterium, das er mit seinem Kenntnisstand und seinen motorisch-kognitiven Fähigkeiten unweigerlich reißen muss? Es hat etwas mit den Vorgaben zu tun, die ich für die Platzierung von Gegenständen in mir mache. Da kann man nicht einfach so angewuchtet kommen und irgendwelche Koffer noch im Laufschritt mit Schwung … Neee. – – – Da braucht es ein ausgeruhtes Auge. Einen kühlen Kopf. Jahrzehnte Erfahrung. Räumliches Vorstellungsvermögen gepaart mit im Laufe der Jahre unverrückbar gewordenen Grundsätzen, einer festen Reihen- und Rangfolge der zu berücksichtigenden Objekte sowie zu guter Letzt das berühmte Fingerspitzengefühl. Das fehlt den Männern ja so bemitleidenswert generell.

An der Stelle mache ich einen Perspektivwechsel. Bis hierher habe ich ausgeführt, wie sich die Dinge aus Sicht der Chefin ausnehmen und wie ich sie mit ihr gewöhnlich bespreche. Das spiegeln wir jetzt mal. Mich-Einräumen aus Sicht der männlichen Hilfskraft. Ganz einfach: Was drin ist, steht nicht mehr rum. Was zu spät kommt, bleibt draußen und fährt beim nächsten Mal mit. Merken Sie was? Die zwei Perspektiven sind miteinander prinzipiell unvereinbar. Das ist Krieg bis zum letzten Teelöffel ohne jede Chance auf eine Verhandlungslösung. Schade nur, dass die beiden das weder kapieren noch irgendeine Neigung entwickeln, ihre Unterschiedlichkeit als Reichtum zu erleben. Auch schade übrigens, dass sie entschiedene Gegner von smart home sind. Für mich wäre smart home die einzige Chance, mich über meine Beobachtungen mit einem intelligenten Gegenüber auszutauschen. Und für die beiden wäre die Chance noch größer: dass nämlich ein Konsilium aus kompetenten Küchen-, Büro-, Unterhaltungs-, Sport- und Erotikgeräten ihre Probleme besprechen und auf dieser Grundlage eine vernetzte Paartherapie entwickeln sowie durchführen könnte.

Die Geschmähte

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Neulich war ich in Kassel, weil ich sie noch mal sehen wollte, die documenta fifteen, falls es sie denn noch gab. Kunstausstellungen werden ja gerne verboten. Obwohl das Totschmähen und -schweigen doch effizienter ist (fernwestliche Weisheit). Tatsächlich habe ich sie bei bester Gesundheit angetroffen:

Guten Morgen, Herr Ewart Reder. Guten Morgen, Herr Volker Beck. Guten Morgen, Herr Sascha Lobo. Möge das Geschenk des Wassers Gottes Liebe aus Ihrer Dusche auf Sie herabregnen lassen. Der Süden hat eine Neuigkeit für Sie: Man muss Wasser gar nicht heizen. Das tu ich gern: teilen, was die ganze Welt weiß außer ein paar Gesellschaften, die sich als Vorleger des Bettes definieren, in dem das Geld mit sich selbst schläft – teilen mit diesen Gesellschaften. Lumbung, die Reisscheune, ist groß genug für alle. Auch für jüdische Menschen selbstverständlich und ganz besonders. Zweitausend Jahre Vertreibung, Ausgrenzung und Vernichtung sichern ihnen die Anteilnahme und Solidarität aller Menschen, von denen viel zu viele Vergleichbares erlebt haben. Nicht Gleiches. Begriffe machen Besonderes gleich, darum erzähle ich lieber. Dass ich Fehler mache, weiß ich, bevor ich sie mache, darum tun sie mir aber nicht weniger leid hinterher. Vielleicht wussten manche nicht, dass der Staat Israel, der viel Gutes hat, seine Regierung und seine Armee Verbrechen begehen. Dann kommt hier die nächste Neuigkeit aus dem Süden: Alle Staaten, Regierungen und Armeen tun das. Und wieder erzähle ich lieber: Deutschland unterstützt, bewaffnet und befähigt damit die Türkei, Volksgruppen in ihrem Südosten und außerhalb ihres Staatsgebiets anzugreifen. Übrigens: Von Opfern dieser Aggression stelle ich eine Kunstdefinition aus, ein Mann aus Rojava erklärt die traditionellen Liebeslieder seines Landes folgendermaßen: Alles hat zu tun mit der Schönheit der Frauen, die alles um sie herum in Schönheit verwandelt und damit in Kunst. Wie gesagt, ich mache Fehler – du darfst auch welche machen. Hiermit spreche ich Menschen an, die das bestehende Weltverhältnis normal und in Ordnung finden. Jede/r kann lernen, sich korrigieren, und ich persönlich will das mehr als alles andere. Lernen. Wie ich zum Beispiel selber gerechter werde. Sodass mich auch Menschen ohne Geld besuchen können. Oder dass nicht alles, was es in meiner Nähe zu essen gibt, das Doppelte kostet wie im Rest von Kassel. Oder dass die sobat-sobat = „Freunde“ = Kunstvermittler:innen nicht die eigenen Masterarbeiten und Kulturkontakte wichtiger finden als die Menschen, die sie führen, oder die Kunst, die sie zeigen. Oder dass die Besucher:innen ihre Meinung sagen können auch außerhalb der spärlichen von mir geschaffenen Gelegenheiten, die gerne weiter geflüstert werden und nur halb öffentlich gemacht. Und dass hoffentlich meine Künstler:innen nicht schon nächstes Jahr das Gleiche sind wie die Auserwählten anderer internationaler Kunstausstellungen: gemachte Leute. Also unecht.

Der Mauerfäller (West)

Ich stehe an einem Bahnsteig und versuche, nicht von einem der Tausende neben mir in das Gleisbett gestoßen zu werden. Was es in solchen Situationen nicht gibt, sind ein Zug und die Aushaltbarkeit der Situation. Außerdem hängt hier kein Flachbildschirm, mit dem ich ruhiggestellt werden könnte. Als ich gerade durchdrehe, steht ein überdimensionales automatengedrucktes Neun-Euro-Ticket vor mir in der Luft, flattert mit den Papprändern und schreit mich und die Mitwartenden an:

Hey Leute, habt ihr noch Bock?! Ich hab noch so was von Bock!! Grad mal zwei Monate Wahnsinn und schon wieder seelenruhig zu Hause sitzen?? Niemals!! Aller Wahnsinns Dinger sind drei!! Herein spaziert in die gute Tube, ich spritz euch in den hintersten Winkel Deutschlands!! Nach Sylt? Na warum denn nicht auf die Flachwichser-Pflegeinsel! Zugspitze? Aber ja, immer druff, bisse oben platt iss! Wie bitte?? Ob ich was ohne Ausrufezeichen sagen könne.

Klar:

Fällt – heute – aus. Grund dafür ist ein kurzfristiger Personalausfall. Wir bitten um Entschuldigung.

Hintergrund: Das Personal sitzt kurzfristig in der Klapsmühle. Ja Leute, ihr müsst auch nicht alle gleichzeitig. Das funktioniert doch nicht. Werdet mal ein bisschen digitaler. Schwarmintelligenz – schon mal gehört? Der Provinz auch mal die Chance geben. Oder mal Mittwoch Mitternacht. Stattdessen quetscht ihr euch alle dahin, wo es nett ist, und nur am Wochenende. Werktags, die ganzen Berufspendler – die braucht doch keiner. Nehmt einfach deren Züge, möglichst mit Fahrrad, dann habt ihr ganz schnell eure Ruhe und die Industrie auch. Bloß weil dreimal so viele Leute Zug fahren, lassen wir doch nicht mehr Züge fahren. Und wenn wir sie hätten – das würden wir nie tun!

Ich sage „wir“, weil ich ein Ministerkind bin. Ich regiere mit. Wusstet ihr eigentlich, dass mein Dad, der Volker, ein richtiger Spaßvogel ist? Er gilt als langweilig, aber das Gegenteil ist wahr. Ein Lauser ist das, ein Streichemacher. Der freut sich total über mich. Ihr wisst ja nicht, wie langweilig regieren ist. Da muss man mal was Verrücktes machen wie mich. Also der Volker ist zufrieden mit mir. „Du hast einen Modernisierungsschub ausgelöst“, sagt er zu mir. Komplimente muss man nicht verstehen. „Durch dich ist der ÖPNV digitaler geworden.“ Kapier ich auch nicht. „Einfacher geworden.“ ?? „Stärker auf die Fahrgäste ausgerichtet“. ??? „In weniger als 0,1 Prozent der Züge musste das Sicherheitspersonal eingreifen.“ Das stimmt, weil in weniger als 0,1 Prozent der Züge irgendwelches Sicherheitspersonal auftaucht. Egal, der Volker hat einen englischen Nachnamen, auf Deutsch bedeutet er: der Wissende. Vor allem freut sich der Volker über mich und das ist es, was für ein Kind zählt.

Ich bin sogar ein bisschen stolz auf mich. Im Grunde bin ich der westdeutsche Mauerfall. Auf einmal können die Menschen reisen! Die Mauer der Armut um sie ist gefallen (für einen Sommer). Jetzt sehen sie das Land, das sie bisher nur aus dem Westfernsehen kannten. Sogar die Gefängnisse werden bald leer sein in Deutschland. Fünfzigtausend Menschen sitzen gerade in einem deutschen Knast, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Die häufigste dieser Strafen ist die fürs Schwarzfahren.

Zum Schluss verrate ich euch noch ein Geheimnis. Aber bitte sagt es nicht dem Volker. In Wirklichkeit hat mich Robert Habeck gezeugt, und zwar im Auftrag der Automobilindustrie. Kein Autofahrer, der für neun Euro mal mit einem Regionalzug gefahren ist, traut sich das jemals wieder. Zum Psychiater geht er: Herr Doktor, habe ich das alles geräumt? Und dann rennt er ins nächste Autohaus.

Dein Zug!

„Mein Zug kommt“, verabschiede ich mich und beiße mir auf die Zunge, dass mir keine dümmere Ausrede eingefallen ist, um dem langweiligen Gespräch zu entkommen. „Welcher Zug?“, fragt mein Gegenüber, „glauben Sie an fahrende Züge? An den Storch glauben Sie wohl auch noch.“ Ich drehe mich um und gehe unentschuldigt. Da schwebt eine Dieselwolke vom Himmel herab und entbindet einen Regionalzug, der Folgendes zu mir spricht:

Du hast mich mächtig angezogen / an meiner Sphäre lang gesogen. / Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen / fasst Fahrgast dich! Wo bleibt der Freudenruf / zu dem die Deutsche Bahn dich einst erschuf? / Bist du es, der von meinem Rauch umwittert / in Altmetallwaggons das Land durchzittert, / ein wie Verkehrswege gekrümmter Wurm? / Auf Ausfallplänen, im Lügensturm / fahr ich hin und her, / schlaf ich ein und aus! / Im Durchsagen-Lügenmeer / und in deiner Phantasie zu Haus. / Ein wechselndes Fehlen / ein Zeit-und-Geld-Stehlen / so schlaf ich auf dem Webstuhl der Zeit / als Gottes mobile Unsichtbarkeit!

Aber ich seh schon: Klassik tröstet dich auch nicht. Dauerkarteninhaber, du dauerst mich. „Host dem Auto abgeschworn, hot sich’s fia di ausgefohrn.“ Ist noch vom Andi, dem alten Verkehrsmistbauer. Der neue kann gar kein Bayerisch, ich frag mich, wie der das CSU-Wahlprogramm fehlerfrei abschreiben konnte. Aber ich merk schon, Politik ist auch nicht so deins. Du reist gerne? Ja, das ist grad schlecht. Die Zeiten haben gewendet, weißt du: U-Turn gemacht und weg. Überall Vergangenheit. Aktuell ist Verweilen angesagt. Wie viele deutsche Bahnhöfe kennst du überhaupt? Behauptet, ich würde nirgends mehr fahren, und belegt seine Behauptung mit fünf bis sieben Heimatbahnhöfen. Da beleg ich jedes Gleis wahrscheinlicher als der die Tatsache meines Nichtvorhandenseins. Man kommt schließlich mit dem Fahrrad auch zum Bahnhof. Einfach mal Fresse halten und die Bahnhöfe des Heimatlands abradeln! Ich könnt grad neidisch werden, ich weiß gar nimmer, wie ihr ausschaut, ihr stillen Guten allüberall.

Trotzdem sage ich: Garage ist besser. In der Garage geht nichts kaputt. Also nicht, weil nichts mehr ganz wär. Sondern, weil da ganz andere Bedingungen herrschen. Garagen sind die Bodenhaltung der Fahrzeuge. Ein Fahrzeugwohllabel ist meines Wissings schon im parlamentarischen Verfahren. O Gott, das klingt so nach „Fahren“ …! Nee, langsam, die Mehrheit kommt zu Stande, read it from my screen. Immer bloß die Tierarten werden gerettet – wir Züge sterben auch aus! Der landesweite Museumsstatus muss jetzt kommen und dann darf kein Weiß- oder Schwarzfahrer mehr in uns fahren dürfen. Dann muss jeder stehend von der Bahnsteigkante Abstand halten müssen, und zwar von uns. Da kann es keine zwei Meinungen mehr geben und am besten gar keine mehr. Nur noch die Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig. Reicht doch. Was für die Deutsche Bahn gut ist, kann für Deutschland nicht schlecht sein. STOP STOP STOP = Deutschlands Galopp!

Ach komm, jetzt ist er mir eingeschlafen, der Fahrgast. Na den werd ich wecken. Der wird vor seinem fahrplanmäßig erwarteten Zug noch mal einschlafen! Ganz leise alles Liebe ins Ohr geflüstert:

Dein Zug!

Schachmatt!! – – – Ääh. – Wiebittewass??

Sorry. Ist mir noch nie passiert: In der eigenen Kolumne eingeschlafen! Peinlich.

Aber was hatte ich auch für einen süßen Traum! Einen Schach–Traum. Grad hatte ich einem rot-gelb-grünen König Matt IN EINEM ZUG angesagt …

Der gläserne Hamlet

Heute hat meine Bierflasche das Wort. Von dieser Stelle aus haben schon so viele Sachen gesprochen und meine Bierflasche musste still zuhören, durfte nicht mucksen (oder glucksen), wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt. Das macht was mit einer Bierflasche. Ich spüre es. Wir kennen uns ja schon lange. Stehen uns nahe, sage ich mal. Ehe ich also noch richtig Ärger kriege mit ihr: Bühne frei für meine Bierflasche – prost!

Ja, prost. Und dabei immer schön in die Augen geschaut!

Wen oder was habe ich vor mir?

Ich blicke auf einen Schädel mit geöffnetem Mund. Rein oder nicht rein?, das ist hier die Frage. Die Original-Hamletfrage ist übrigens keine Entscheidungsfrage, wie viele denken, sondern eine Frage der Bewertung. Was ist schlimmer?, fragt Hamlet sich. Und frage ich mich. Zweierlei Übeln stehe ich gegenüber: dem Verschmäht werden – vielleicht das Schlimmste, was Flaschen und Menschen überhaupt kennen – oder alternativ dem Verschluckt werden von einer fremden, unappetitlichen und obendrein undurchsichtigen Macht.

Ich stelle mir aber noch mehr Fragen. Am Anfang eines Dates mit dem Kerl stelle ich andere Fragen als in der Mitte oder am Ende.

Anfangs, wenn ich noch voll bin, gucke ich seinen Schädel an und frage mich: Ist er schon voll oder ist es noch früh am Abend? Was war schon alles und was kommt noch? Eine Bierflasche weiß, dass sie nicht die Einzige ist im Leben eines Mannes. Wir stehen in einer langen Reihe von Erfahrungen, die für unsere Männer sein müssen. Eine Bierflasche kapiert so was. Es ist nicht Eifersucht, was ich empfinde, sondern Unsicherheit, welche Rolle ich für ihn spielen werde. Traut man uns Bierflaschen gar nicht zu, aber wir sind sensibel und beziehungsorientiert, typische Melancholiker.

Wenn ich nur noch halb voll bin, gucke ich ihn an und stelle den Fragen-Klassiker: Halb voll oder halb leer? Da wirds zwischen uns richtig emotional. Stehen wir uns jetzt näher, sind wir uns ähnlicher geworden, seit die Hälfte von mir ein Teil von ihm ist? Seine Blicke sagen eindeutig: Ja. Wenn es nicht Liebe ist, mit was er mich anguckt, dann auf jeden Fall etwas mir inhaltlich Vertrautes. Eine Wärme, wie sie inzwischen auch in mir herrscht. Eine innere Weichheit, wie auch ich sie hinter dem harten, dunklen Glas meines Äußeren verberge. Ein leicht bitterer Beigeschmack – er nennt ihn „das Leben“, ich sage „Hopfen“ dazu, aber das sind nur Äußerlichkeiten zwischen zweien, die ihr Inneres miteinander teilen.

Am Ende, wenn ich leer bin, werden meine Fragen grundsätzlich. Ist die Leere in mir gleich der Leere in ihm? Eine Leere, die mir von Geburt, oder sagen wir „ab Werk“, fremd ist – woher habe ich sie? Entstand sie nicht durch ihn? Und ist es dann abwegig, ihn als Quelle und Urheber meiner Leere wahrzunehmen? Verhält es sich allerdings so, muss ich feststellen, dass zwischen uns ein für mich unvorteilhafter Tausch stattgefunden hat. Ich gab ihm alles, was ich hatte und was er im Übrigen durchaus zu schätzen weiß. Er gab mir im Austausch dafür seine Leere und guckt enttäuscht durch mich durch, während ich umgekehrt durch ihn jetzt weniger durchblicke als je zuvor. Der Eindruck verdichtet sich noch, wenn er anfängt mit mir zu reden und sich unzutreffender Weise von mir verstanden fühlt.

Mein Fazit als Bierflasche lautet: So oder so ist er mein Schicksal und ob dieses schlimm ist, weiß ich nicht, da ich nichts außer seinen Schädel je kennengelernt habe und mein Schicksal also mit nichts vergleichen kann.

Der Hörende

Ursprünglich wollte an dieser Stelle meine Bierflasche sprechen. Aber die kann warten. Wenn etwas in meinem Leben die Gewähr bietet, mir in alle Zukunft treu zu sein, dann ist es die Bierflasche. Daher spricht an dieser Stelle heute mein Balkon. Ich beneide ihn um das, was er erlebt, wenn ich nicht da bin, und habe ihn gebeten, etwas davon mit mir zu teilen.

Was heißt ‚mit dir‘? Das hier lesen Unzählige, die das genauso brennend interessiert.

Ich muss zunächst meine Lage erklären. Aus der ergibt sich nämlich, was ich erlebe: Vis à vis steht ein zweistöckiges Acht-Parteien-Mietshaus mit vier Balkonen. Zwei gucken von oben herab auf mich, zwei auf Augenhöhe zu mir herüber. Auf mindestens einem Balkon sitzt oder steht eigentlich immer mindestens eine Person und unterhält sich, sei es mit einer weiteren Person auf dem Balkon, sei es mit einer Person auf einem anderen Balkon oder sei es auch mit einer auf dem Hof stehenden Person, was dann noch unwesentlich lauter wird. Die vier Parteien, die keinen Balkon haben, stehen meistens auf dem Hof und unterhalten sich, entweder untereinander oder mit einer Person, die allein auf einem der Balkone steht und auch jemanden braucht, mit dem sie sich unterhalten kann. Hier ist eigentlich immer was los.

Aber warum erzähle ich dir das? Du sitzt doch oft genug auf mir, könntest es selber mitkriegen. Ich weiß, du behauptest immer dezent wegzuhören, weil die Mitteilungen deiner Nachbarn dich angeblich nichts angehen und du überdies versuchst dich auf dein Buch zu konzentrieren. Was meiner Meinung nach unmöglich ist bei dem Dauergespräch. In das bin ich und bist gelegentlich auch du akustisch nun mal miteinbezogen. Aber egal, ich erlebe hier schon so einiges.

Oben links die Rentnerrunde zum Beispiel. Saß heute wieder beisammen. Der Mieter ist letztes Jahr in Rente gegangen, die meisten seiner Freunde sind da schon länger. Von denen wird er noch nicht so richtig ernst genommen.

„Na, warste wieder auf der Arbeit?“, fragt einer. „Biste mal wieder hin und hast geguckt, was die so schaffen? Erzähl doch mal.“

„Na ja“, sagt der Mieter, „gestern war ich schon mal wieder da. Die haben so Meetings jetzt, das glaubst du nicht. Geleitet wird das von einem Manager. Der Teamleiter muss kommen, von jedem Team, und die anderen können online teilnehmen, oder sie kommen in die Firma, grad wie jeder lustig ist. Aber glaub nicht, dass da jemand kommt – online. Mein Teamleiter hat das Ganze verpennt, der war zwanzig Minuten zu spät da – online. Da war er dann auch alleine von seinem Team, nee wirklich, das kann sich keiner vorstellen. Na ja, zu essen gabs und zu trinken. Also sagen wir mal: zu essen. Und viele waren da nicht, also gabs genug. Aber sonst, nee ganz ehrlich, keinen Tag zu früh bin ich da weg. Das will sich keiner mehr antun.“

Oder oben rechts, der Ex-Alleinerziehende. Mit den drei alleinerziehenden Töchtern. Eine steht heute im Hof mit ihrem Jungen und klingelt. Opa winkt vom Balkon. Eine Minute später kommt er raus und fragt aufgeräumt: „Und? Wo geht‘s hin? Pizza, Schnitzel, Hamburger?“

„Sorry, wir haben grad gegessen“, sagt die Tochter und steigt ein, als Opas Auto geblinkt und mit einem Stöhnen die Türen aufgemacht hat. Gedankenverloren steigen Opa und Enkel zu.

Aber wo fahren die jetzt hin? Was machen die jetzt – der eine hungrig, die zweite schuldig an der verratzten Unternehmensplanung, der dritte den zwei anderen einfach nur ausgeliefert? Ich werde es niemals erfahren! Manchmal will ich auch gar nicht mehr zuhören. Wenn es spannend wird, gehen die Leute rein und machen die Balkontür zu oder sie steigen in ihre verdammten Autos und streiten sich da drin weiter. Ich wünschte, ich hätte auch so ein Buch, in das ich mich vergraben könnte und so tun, als hätte ich keine Ohren.

Die Verkennbare

Nach einem Jahr Pause hat die Frankfurter Buchmesse wieder stattgefunden. Hat sie? Klar, stand in der Zeitung. In der, wo Redakteurinnen ihre Artikel im Bett des Chefredakteurs schreiben müssen? In ALLEN Zeitungen stands, du Missbrauchsopfer! Die Buchmesse: Wo die ganze Welt in 20 Hallen über Bücher redet, die sie nicht…

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Der Wahlversager

Die Bundestagswahl ist geschafft. Alle Kanäle quellen von Siegerbildsequenzen über. Die Auswahl an Koalitionen ist Schwindel erregend im doppelten Wortsinn. Beim Zappen treffe ich den Wähler mutterseelenallein vor einer Kamera. Er soll zum Wahlausgang Stellung nehmen. Er nimmt sie:

Der heutige Wahlabend ist ein schwarzer Abend für mich. Also dunkel – nicht schwarz in dem Sinne. Meine Niederlage gilt es unumwunden einzugestehen. Das gebietet die Demut. Ich habe die Wahl verloren, gar keine Frage.

Sechzehn Jahre des Werbens um meine Einsicht waren umsonst. Ich habe die Bundesregierung nicht verstanden. Und das, obwohl Mutti extra langsam mit mir gesprochen und ihr Ablöser sie an Gedankentempo noch untertroffen hat. In der Folge bin ich hoffnungs- und führerlos dem Treiben unbekannter Mächte ausgeliefert. Es ist wie das Ende des Schwarzweiß-Fernsehens, an das ich mich noch traumatisch erinnere: Lauter bunte Farben brechen über das Land herein, paaren sich am hellen Tage miteinander. Als hätte es ein 1957 mit absoluter Mehrheit für die CDU/CSU nie gegeben.

Ich habe halt keine Ahnung von Politik. Und das hat die CDU/CSU unnachsichtig bestraft mit dem Rückzug von ihrer Macht über mich. Zwar redet sie mir noch gut zu, behauptet, am Brunnen vor dem Tore da stehe ein Lindner und träume für mich einen süßen Traum von Jamaica. Aber den verdiene ich nicht. Ich habe einen glasklaren Regierungsauftrag erteilt, und zwar an die Geldwäscherei Scholz & Warburg in Hamburg, Zweigstelle Berlin. Wer so was macht, hat das Vertrauen der CDU auf Jahrzehnte verspielt und keinerlei Anspruch mehr auf ein Bankkonto bei irgendeiner Deutschen Bank.

Auch das Lob dafür, dass ich die Linke halbiert habe, verdiene ich nicht. Denn meine linken Leihstimmen für SPD und Grüne haben der CDU erst den Todesstoß versetzt. Und das Allerperfideste an mir bei meiner Leihstimmenkampagne war: Die erwartbare Politik einer neuen Rotgrün geführten Bundesregierung (mit Hepatitis L) wird den Stimmenanteil der Linken bei der nächsten Bundestagswahl verfünffachen! Abgesehen davon, dass die Linke ab sofort vier Jahre lang die Oppositionsrolle alleine spielen darf, ohne von einer anderen Partei darin gestört zu werden.

Fazit: Ein Wähler, der sich derart gravierende Wahlschnitzer erlaubt, hat das Recht auf die politische Mitwirkung der Parteien an seinem Wahlzirkus verwirkt und wird zu vier Jahren politischer Untätigkeit verurteilt.

„Per Ursulam ad Astra“ (Seneca)

Die „offene Gesellschaft“ (Popper) erzeugt Vielfalt. Im Supermarktregal steht Qualität einträchtig neben Pfusch und akzeptiert es, unverkauft stehenzubleiben. Erzählt der Impfstoff von AstraZeneca: Ich denke positiv über Krankheiten. Ich entspringe ja auch einer Liebesehe. Ein zweitklassiger Philosoph und ein erstklassiges Billigauto haben mich gezeugt. Meine Kindheit war glücklich. Ich musste…

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Der Abgesagte

Alle reden von Weihnachten – was ist das? Ich kenn nur „Weihnachtsmarkt“. Spaß. Aber der ist verboten. Also der Weihnachtsmarkt. Ist das durchdacht? Was ist mit Berufen, die ganzjährlich nur davon leben? Wie Weihnachtsmann, Glühweinkoch, Pelzmanteltaschendieb. Auch mancher Terrorist steht vor dem Nichts. Wir hören mal rein: Ich fass es…

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