Was zusammenhält

Was ist Kultur? Die von Herder und Hegel bis Derrida und Eribon oft gestellte, ebenso oft verkomplizierte Frage beantwortet sich einfach: Kultur ist, was Sommerpause macht – minus Politik. Die Wahrheitsdrohne weiß das, ist pünktlich weggeflogen. Was bleibt mir als ihr nachzureisen? Ins 2024 zum dritten Mal in Folge und überhaupt mit Abstand am häufigsten als „lebenswerteste Stadt der Welt“ vom britischen Economist ausgezeichnete Wien geht es. Ich will wissen: Wer oder was macht Wien so lebenswert?

Am Abend meines Ankunftstags besuche ich die nächstgelegene Grünfläche: den Rathauspark. Operngesang erfüllt ihn. Wie das? frage ich einen Mann, neben dem auf der Parkbank zwei Rucksäcke stehen – ein Durchreisender. Ich frage erst, als er seinen von der Hochkulturkonkurrenz ungerührten Mundharmonikavortrag erstmals unterbricht. Open-Air-Kino sei das, nicht live. Das muss ich mir anschauen. Hinter der nächsten Baumgruppe sehe ich die Leinwand, davor Hunderte Kinder, Eltern, Hunde. Einträchtig und kostenlos genießt man, was sich am Originalschauplatz keiner leisten könnte. Die Stadt bezahlt, Abend für Abend. Was ich erst am nächsten Morgen erfahren werde: Gleichzeitig läuft am Karlsplatz, fünfzehn Fußminuten entfernt, das nächste Umsonst-und-Draußen-Spektakel: Wiens Popfest. Vier Seiten im Falter, der ‚Zeitung Sprizz‘, umfasst das Line-Up, vier Tage und Nächte Halligalli, bezahlt hauptsächlich von der Stadt. Wäre ich einen Tag früher angereist, hätte ich Nino aus Wien gehört – ein Traum. Die Wirklichkeit: Am nächsten Tag gehe ich wieder in den Rathauspark mit dem Plan, hernach das Popfest heimzusuchen. Es kommt anders. Von der Leinwand und der stadiontauglichen PA dröhnt ein volles Coldplay-Livekonzert und danach geht die Party an den umliegenden Bier- und Würstlständen erst so richtig los. Wunschlos schwänze ich das Popfest.

Was man zwischendurch mal muss, geht in Wien unfassbar einfach. Überall gibt es öffentliche WCs. Und die verstecken sich nicht (wie in den Einkaufszentren von Frankfurt, das sonst gar keine hat), sondern stellen an den Straßenecken Schilder auf, die zu ihnen hinführen. Wiederauffüllen kann man sich an den unzähligen Brunnen und Trinksäulen. Die tropischen Augustnächte und -tage lang versprühen Masten auf Knopfdruck frisches Aerosol. Das Ruhedürfnis stillen flächendeckend Bänke und Einzelstuhlpaare. Extrabreit sind die und nicht volkspädagogisch abgeschrägt wie in Frankfurt: damit man keine Bierflasche draufstellen kann. Einträchtig steht die Gastronomiebestuhlung neben der öffentlichen an der Gasse – soll doch jede/r selbst entscheiden, wo er oder sie sitzt. Man ist hier so gut zu mir! Und „man“ heißt ein ums andere Mal: die Gemeinde Wien.

 

Herumgesprochen dürfte sich haben, was die für das Wohnbedürfnis tut, schon seit über hundert Jahren. Klafft in der atemberaubenden k.u.k. Zuckerbäckerbebauung eine Lücke, die von einem unansehnlichen Behelfsbau gefüllt wird, dann schämt man sich für den nicht, sondern schreibt in fetten roten Lettern drauf: „Wohnhausanlage der Gemeinde Wien, erbaut in den Jahren xy“. Wie ein Mantra grüßt der Spruch den Straßenbahn Fahrenden vielhundert Mal. Die große Zeit des öffentlichen Wohnungsbaus kam nach dem Ersten Weltkrieg, als fortschrittliche Architekten und Verwaltungen den Bedarf arbeitender Menschen zum Maßstab machten, ganze Stadtviertel ein modernes Aussehen annahmen und dabei mit Kindergärten, Gemeinschaftshäusern, Grünflächen und Kunst am Bau vielfältigen Bedürfnissen nachkamen. Frankfurt war damals Wiens Schwesterstadt in der Architekturrevolution. Die oberbürgerlichen Meisterspekulanten der letzten Jahrzehnte, gern SPD, traten das in die Tonne namens Vergessenheit.

 

Ich fahre mit der U4 zur Endhalte Heiligenstadt, stehe vor dem Karl-Marx-Hof, der berühmtesten Wohnanlage des „roten Wien“. Mein Stadtführer zeigt mir das Bild einer reliefierten Keramikfigur und nennt sie „der Sämann“. Ich frage mich zu der Figur durch und stutze: Die Figur sät nichts, sieht auch nicht aus, als besäße sie das Nötige. Die Hände greifen dahin, wo Hosentaschen wären, hätte die Figur genug an, woran Taschen zu befestigen wären. Bettelarm ist der Mann. Seine Hände machen die Geste der Armut: Sie drehen leere Hosentaschen um. Nein, der richtige Sämann steht dreißig Meter weiter vor dem Haus, ist eine Bronce und wurde 1920 von Otto Hofner geschaffen. Ein hübscher, durchtrainierter Bursche, erinnert von fern an Michelangelos David, womit das Tuch, aus dem er sät, auch ein Beutel sein könnte, in dem Steine warten würden darauf, auf gepanzerte Gegner geschleudert zu werden. Der kecke, freistehende Säman erntet zehn Jahre später vom vorerwähnten Keramiknachbarn an der Hausfassade Widerspruch. Josef Franz Riedels Figur von 1930 heißt zwar „Befreiung“, was insofern stimmt, als die Eisenringe um den Hals und um die Handgelenke nicht mehr durch eine Eisenkette verbunden sind. Das wars dann aber auch mit der Freiheit. Bettelarm ist der Mensch und die Stigmata seiner Sklaverei trägt er weiter mit sich herum.

Wenige Jahre später, im Februar 1934 erlangt der Karl-Marx-Hof traurige Berühmtheit, als hier die blutigsten Auseinandersetzungen stattfinden zwischen bewaffneten Arbeitern und den Truppen der Dollfuß-Diktatur. Bundesheer und Heimwehr müssen die Wohnanlage mit Kanonen beschießen, erst dann geben Kommunisten und Republikanischer Schutzbund auf. Unlängst, im Juni 2024 wurde am Karl-Marx-Hof wieder geschossen. Sieben Schüsse sollen es gewesen sein, aufgeklärt ist die Sache bisher nicht. In einigen Wiener Parks kam es in letzter Zeit zu Messerstechereien zwischen ethnisch diversen Gruppen von Jugendlichen, um Fragen der ethnischen Zugehörigkeit. Dahinter wuchern Ängste vor Entrechtung, falls Österreich mit den Nationalratswahlen im September nach rechts umkippen sollte. Die Regierungen des Bundes und der Länder haben gemeinsam die Versorgungsstandards für Flüchtlinge gesenkt. Wien macht da nicht mit, zahlt weiter wie bisher. Ob all die Wohltaten für den Stadtsäckel denn bezahlbar seien, frage ich beim Wein den studierten und berufserfahrenen Betriebswirt, dessen Gast ich bin. Wenn es den Zusammenhalt der Menschen fördere, sei das Geld bestens angelegt, meint der.

Ich erlebe ihn hier ständig, diesen Zusammenhalt. An der Supermarktkasse begrüßt die Kundin vor mir die Kassiererin mit „Junge Frau, ich krieg es billiger“. Sie klebt zwei kleine Marken auf Waren aus ihrem Einkauf. „25% Rabatt“ steht drauf. Dann dreht sie sich zu mir um. „Und der junge Herr auch“, sagt sie und versieht drei meiner fünf Artikel mit ihren Märkchen – zielsicher die teuersten.

Elemental Child & Frankie Kay – ROBOTS

„Art shows us that human beings still matter in a world where money talks the loudest, where computers know everything about us, and where robots fabricate our next meal and also our ride there.“
„Die Kunst zeigt uns, dass der Mensch in einer Welt, in der Geld am lautesten spricht, in der Computer alles über uns wissen und in der Roboter unsere nächste Mahlzeit und auch unsere Fahrt dorthin fabrizieren, immer noch wichtig ist.“ – John Maeda

Music & Production by Elemental Child & Frankie Kay © 2024

Elemental Child – Multifaceted Nature

“All art is at once surface and symbol. Those who go beneath the surface do so at their peril.”― Oscar Wilde
Have a good start into the new year !!!
„Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Diejenigen, die unter die Oberfläche gehen, tun dies auf eigene Gefahr.“ ― Oscar Wilde
Kommt gut ins neue Jahr !!!

Musik & Produktion by Elemental Child © 2023

Die Geschmähte

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Neulich war ich in Kassel, weil ich sie noch mal sehen wollte, die documenta fifteen, falls es sie denn noch gab. Kunstausstellungen werden ja gerne verboten. Obwohl das Totschmähen und -schweigen doch effizienter ist (fernwestliche Weisheit). Tatsächlich habe ich sie bei bester Gesundheit angetroffen:

Guten Morgen, Herr Ewart Reder. Guten Morgen, Herr Volker Beck. Guten Morgen, Herr Sascha Lobo. Möge das Geschenk des Wassers Gottes Liebe aus Ihrer Dusche auf Sie herabregnen lassen. Der Süden hat eine Neuigkeit für Sie: Man muss Wasser gar nicht heizen. Das tu ich gern: teilen, was die ganze Welt weiß außer ein paar Gesellschaften, die sich als Vorleger des Bettes definieren, in dem das Geld mit sich selbst schläft – teilen mit diesen Gesellschaften. Lumbung, die Reisscheune, ist groß genug für alle. Auch für jüdische Menschen selbstverständlich und ganz besonders. Zweitausend Jahre Vertreibung, Ausgrenzung und Vernichtung sichern ihnen die Anteilnahme und Solidarität aller Menschen, von denen viel zu viele Vergleichbares erlebt haben. Nicht Gleiches. Begriffe machen Besonderes gleich, darum erzähle ich lieber. Dass ich Fehler mache, weiß ich, bevor ich sie mache, darum tun sie mir aber nicht weniger leid hinterher. Vielleicht wussten manche nicht, dass der Staat Israel, der viel Gutes hat, seine Regierung und seine Armee Verbrechen begehen. Dann kommt hier die nächste Neuigkeit aus dem Süden: Alle Staaten, Regierungen und Armeen tun das. Und wieder erzähle ich lieber: Deutschland unterstützt, bewaffnet und befähigt damit die Türkei, Volksgruppen in ihrem Südosten und außerhalb ihres Staatsgebiets anzugreifen. Übrigens: Von Opfern dieser Aggression stelle ich eine Kunstdefinition aus, ein Mann aus Rojava erklärt die traditionellen Liebeslieder seines Landes folgendermaßen: Alles hat zu tun mit der Schönheit der Frauen, die alles um sie herum in Schönheit verwandelt und damit in Kunst. Wie gesagt, ich mache Fehler – du darfst auch welche machen. Hiermit spreche ich Menschen an, die das bestehende Weltverhältnis normal und in Ordnung finden. Jede/r kann lernen, sich korrigieren, und ich persönlich will das mehr als alles andere. Lernen. Wie ich zum Beispiel selber gerechter werde. Sodass mich auch Menschen ohne Geld besuchen können. Oder dass nicht alles, was es in meiner Nähe zu essen gibt, das Doppelte kostet wie im Rest von Kassel. Oder dass die sobat-sobat = „Freunde“ = Kunstvermittler:innen nicht die eigenen Masterarbeiten und Kulturkontakte wichtiger finden als die Menschen, die sie führen, oder die Kunst, die sie zeigen. Oder dass die Besucher:innen ihre Meinung sagen können auch außerhalb der spärlichen von mir geschaffenen Gelegenheiten, die gerne weiter geflüstert werden und nur halb öffentlich gemacht. Und dass hoffentlich meine Künstler:innen nicht schon nächstes Jahr das Gleiche sind wie die Auserwählten anderer internationaler Kunstausstellungen: gemachte Leute. Also unecht.

Wozu bin ich hübsch?

Mittwoch, 2. Februar von 15 – 16 Uhr 

Montag, 7. Februar von 16 – 17 Uhr (Wdh.)

WortWellen

Verlorene Fragen treiben auf der trüben Suppe. Aber sie kann trotzdem schmecken und wer will verlorenen Bildern nachtrauern nach einer tiefer unter der Schürze genossenen Wärme? Aber was wird aus mir? Bange Fragen bilden sich neu, steigen an abkühlende Oberflächen. Und was machen sie außer bange?
Die Pandemie hat junge Menschen besonders tief getroffen, verwundet. Sich schützen ist okay, einen anderen Menschen schützen kann das schönste Beginnen sein. Aber was wird aus einem Leben, das noch nichts erfahren hat außer schützenden Aufschub? Das Schönste kann daraus immer noch werden. Sagen zwei Poetinnen, denen ihr heute zuhört, deren Bücher unter eurer Schürze schlagen wollen wie zwei Schwesterherzen: Marica Bodrožić: Pantherzeit (Essay), Safiye Can: Poesie und Pandemie (Gedichte)

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© Ewart Reder