Notgemeinschaft

Meine Mutter nannte es „eine Husche“: Zehn Minuten regnet es aus allen Himmelsstockwerken, dann kommt die Sonne raus und scheint, als wäre nichts gewesen.

Grad kam so was runter. Zehn Minuten sah man das Vorderhaus nicht mehr hinter der Sturzflut. Jetzt schöpfen alle gemeinsam das Niedergeschlagene aus dem Keller. Wir drei vom Hinterhaus – meine Frau, ich und der Sohn, der uns gerade besucht – packen mit an. Bring your own device. Jeder schaukelt seine privaten Eimer, Kehrschaufeln, Schrubber und Besen für das Gemeinwohl. Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Mieter, spricht das Haus im Kaiser-Wilhelm-Slang.

Ortskundliches abstract: Wir wohnen unterhalb eines Hangs, der vollständig versiegelt ist. Das Wasser von oben läuft in dem Kanal einer Straße zusammen: unserer. Von wo aus es das Ablaufventil unseres Vorderhauskellers mitsamt dessen Fassung raus- und sich auf knapp einen Meter Höhe in den Keller reingedrückt hat.

Die Nachbarin von links oben ist in ihrem Element. Also nicht Wasser, sondern Gemeinschaft. Vor Corona feierte sie jedes Jahr um die Zeit ihren Geburtstag als Hoffest. Seit drei Jahren tobt die Miniaturausgabe davon auf ihrem Balkon. Heute, im Wasser vereint, steht endlich wieder ein Großteil der Nachbarn zusammen auf gemeinsamem Grund. Bildlich gesprochen. Im Grundbuch steht natürlich Onkel Horst, unser Vermieter, und verbittet sich die Verbrüderungsanteile an der Nachbarschaftshilfe. Egal, meine Nachbarin wird zum Faust. In Gummistiefeln „mit freiem Volk auf freiem Grund“ stehend ruft sie im Keller ein neues, postcoronales Arkadien aus:

„Im Innern hier ein paradiesisch Land,

Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,

Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,

Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.“

Unsere Kehrschaufel ist allerdings besser als ihre. Zum Wasserschippen geeigneter. Unsere gleicht einer Doppelgarage mit Stiel vor der Einfahrt. Du schippst fünf Mal und der Eimer ist voll. Bei ihrer, der Normalausführung, muss man schnell sein, damit das Wasser überhaupt mitkommt. Wir leihen ihr unsere Schippe aus. Jeder leiht jedem alles aus. Jeder trägt für jeden oder läuft, ganz wie es kommt, ohne Anweisungen. Wie im Kommunismus. Man schaut höchstens, welcher von den roten Eimern den weißen und welcher den schwarzen Henkel hat. Für später. Und dass man beim Laufen zum Gulli an keins der dreizehn Autos stößt, die auf dem Hof stehen.

Der Nachbar rechts oben ruft seinen Sohn an und der kommt helfen (er wohnt drei Häuser weiter, muss man dazusagen). Jetzt helfen sein Sohn und mein Sohn in einem Haus, in dem sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr wohnen. Der Hausmeister ist aus Bosnien und hat ein schamanisches Wissen über Gewässerbewegungen. Konzentriert hockt er über der Wasseroberfläche und beobachtet Wellen, die wir Normalmietenden nicht sehen können. Die übrigen Ausländer aus dem Haus fehlen, da sie einer Berufstätigkeit nachgehen. Es ist eine recht deutsche Angelegenheit, was sich hier abspielt. Der Nachbar rechts oben missversteht das als Einladung zu der Diagnose: Was hier neuerdings wohne, sei asozial und habe keine Ahnung von Technik. Einer von denen habe das Ventil aufgedreht und jetzt hätten wir den Salat. Dass der Hausmeister widerspricht und erklärt, wie er das Ventil samt Fassung wieder in den Schacht zurückbauen musste, liegt daran, dass er aus Bosnien kommt, denkt mein Nachbar. Die Wahrheitsdrohne verrät mir das, kurz bevor sie aus dem Keller in die Nachbarschaft ausschwärmt, um mit dem Bericht zurückzukehren: Der hydraulische Kommunismus regiert die komplette Straße.

Ich schicke das Fluggerät zu Onkel Horsts Haus nachgucken, was unser Vermieter macht. Seine Tochter, die (noch) nichts zu sagen hat, schippt mit uns, steht knietief mit Leuten im selben Wasser, deren Vermögen neben dem ihren in keinem Diagramm der Welt sichtbar zu machen wäre. Ich erzähle ihr (warum, weiß ich nicht), wie es zum Bau des Vorderhauses überhaupt kam. Fünfzig Jahre mag das her sein. Die denkmalgeschützte Scheune, die hier stand, habe der Vater, wie er mir mal erzählt hat, abgerissen am ersten Urlaubstag des damaligen Denkmalschutzbeauftragten – eines Lehrers, wie Onkel Horst mit kindlicher Heiterkeit dreimal wiederholte.

Die Wahrheitsdrohne kehrt zurück und berichtet, Onkel Horst packe für drei Wochen Sylt. Wer oder was Sylt ist, weiß er seit zwei Jahren nicht mehr, geschweige denn, wie man da hinkommt. Aber den Zweieinhalbtonner, den er auf unserem Hof parkt, um bei sich Platz zu sparen, bewegt er täglich. Fürs Autofahren braucht Onkel Horst keinen Tauglichkeitstest wie für seine Cessna, die seit einigen Jahren am Boden bleiben muss. Ich frage die Wahrheitsdrohne: Wenn Onkel Horst in seinen SUV steigt und die Tür zumacht, wo ist er dann – seiner Meinung nach? Die Drohne weiß es nicht. Demenz schlägt künstliche Intelligenz.

Wir Wärmetauscher

Schon wieder mag ich eine Sache, die alle hassen. Warum bin ich immer anders und die anderen sind immer gleich? Das ist doch ungerecht. Aber ich sag erst mal, was es ist, das ich mag: Ich mag Hitze. Gleich der Aufschrei, sobald ich mich zu meiner meteorologischen Orientierung bekenne: Was, du magst es, dass wir aussterben? Hitze ist Völkermord! Vor allem ist Hitze eklig, da klebt doch alles! Die ganze Farbe läuft ins Gesicht und die Schokolade ist nicht mehr stückig, sondern braune, klebrige Schmiere an den Fingern, igitt!

Ja gut. Manche Sachen sind halt eher was für den Winter. Das heißt doch nicht, dass eine ganze Jahreszeit Scheiße ist, weil man da diese Sachen besser nicht macht. Hetzt irgendjemand gegen den Winter, weil man da beim Draußen schwimmen friert? Nein. Er und sie schwimmen einfach drinne. Flexibilität heißt das Baby. Offen sein für Veränderung.

Ich freue mich jedes Jahr zuerst darüber, dass es warm wird. Da sind ja auch die meisten noch dabei. Aber warum soll ich mich nicht weiterfreuen, wenn es heiß wird? Das ist derselbe Vorgang, nur intensiver! Meinetwegen freue ich mich auch, wenn das Thermometer im September mal unter fünfundzwanzig fällt. So für ein, zwei Tage. Viel länger hält meine Flexibilität allerdings nicht. Ganz schlimm finde ich, dass es irgendwann kalt wird. Und von da an finde ich das Schlimmste, dass es praktisch immer nur noch kälter und kälter wird. Daran möchte ich am liebsten gar nicht denken.

Muss ich auch nicht. Es sind sechsunddreißig Grad heute. Wolkenlos hat der Tag begonnen. Mittlerweile stehen die süßesten Wölkchen der Himmelskonditorei im Schaufenster. Vögel singen, als wären sie eigentlich Sänger, die na-du-weißt-schon-was machen und sich dabei so freuen, dass sie singen. Jede einzelne Blüte, jedes einzelne Blatt und vor allem alle Blüten und Blätter zusammen DUFTEN! Da helfen nur noch Kursiv und Versalien, sorry, Wörter kommen da nicht hinterher. Was ist denn hier los?? schreit die Nase ununterbrochen, kann nicht fassen, dass hinter der Fototapete Welt die geilste Parfümerie des Universums Monate lang gewartet hat darauf, zu explodieren. Die Menschen haben kaum was an und bei der einen Hälfte von ihnen fällt mir keine der Sachen mehr ein, die sie vor Wochen alle noch angehabt haben müssen. Ich möchte an diese Sachen am liebsten auch gar nicht denken.

Muss ich auch nicht. Denken ist ohnehin nicht die Hauptsache, die ich noch betreibe. Es gibt so vieles. Denken verdankt sich einem Mangel an Gegebenheiten, zwischen denen es assistierend vermittelt. Quasi um sie aufzufüllen. Wie französisches Nougat zwischen Pistazien. Sowas ist bei dem Angebot des heutigen Tages absolut überflüssig. Alles wirkt durch sich selber, erklärt sich selber oder gibt dir einen Kuss, nach dem du dich über jede Vorstellung von einer Erklärung nur noch kaputtlachen kannst.

Da kommt die Wahrheitsdrohne angebrummt, wirbelt hektisch mit den Rotorblättern und flüstert in mein Ohr: Sei still, aber sofort! Niemand empfindet wie du. Alle hetzen sie gegen die Hitze.

Ach so? Ja was hat man denn so, als kochende Volksseele, gegen die Hitze?

Also: Erst mal das, was oben in dieser Kolumne steht. Dann, dass es nicht deutsch sei. Deutschland habe ein deutsches Wetter gehabt und das neue Wetter sei aus dem Ausland nach Deutschland eingewandert. Ferner, dass die Ausländer überhaupt nie mehr weggehen werden, wenn sie auch noch ihr eigenes Wetter bekommen mitten in Deutschland. Dann, dass die meisten Deutschen bei dem ausländischen Wetter wegsterben werden und dies natürlich auch so geplant sei. Und schließlich, dass das der eigentliche Große Austausch oder Allergrößte Austausch von allen, ganz wie man wolle, sei: der Austausch des Wetters. Damit brauche man das Volk nämlich nicht weiter auszutauschen, da es erstens wegsterbe und zweitens innerlich nicht mehr deutsch sei, sondern ausländisch, sobald es sich gegen das fremde Wetter nicht mehr wehre, sondern dasselbe auch noch gut finde und darum: Halt die Schnauze von wegen „Ich mag die Hitze“ und den Scheiß. Petz die Augen zusammen, guck grimmig in die Sonne, schüttele drohend deine Faust und rufe aus: „Na warte, ihr da oben, das Volk sind immer noch wir. Das Wetter bestimmen immer noch wir. Für unser deutsches Wetter sind wir sogar bereit, unser Wahlergebnis an das Thermometer zu binden, derowegen rufet alle im Chor:

Durch Hagel, Kälte, Wind und Regen:

Der blitzeblauen Null entgegen!“

Vom Himmel gefallen: Kein Meister

Deutschland hat zum ersten Mal in der Geschichte der Fußball-Bundesliga keinen Meister. Was am letzten Spieltag auf dem Rasen zunächst anders aussah, entschied sich auf einer geheimen Sitzung des Präsidiums der Deutschen Fußballliga am Pfingstsonntag. Die eigentliche Entscheidung war wenige Zentimeter unterhalb des Rasens von Köln-Müngersdorf am Vortag gefallen. Aber der Reihe nach. Die Wahrheitsdrohne verfügt über alle nötigen Beweise, weshalb die Sensation hier exklusiv gemeldet werden kann.

Wie wir alle wissen, hatten zwei Vereine in der abgelaufenen Spielzeit versucht, auf keinen Fall Meister zu werden. Beide waren lange erfolgreich, wobei eine Nichtmeisterschaft nie allein in der eigenen Hand liegt, immer das Nichtversagen des Konkurrenten dafür benötigt wird. Die Erfolge des FC Bayern einzeln aufzuzählen, fehlt hier der Platz. Von Borussia Dortmund sei wenigstens an die Triumpfe in Bochum (1:1) und gegen Stuttgart (3:3 nach zweimal unbeabsichtigter Führung) erinnert. Am vorletzten Spieltag passierte es dann: Durch ein löwenstarkes Bayernversagen gegen Leipzig schlug der BVB zwei Punkte vor dem Konkurrenten auf. Das Debakel der Meisterschaft war kaum noch zu verhindern.

Bekannt ist der Verlauf des letzten Spieltags. Ein seitenverkehrter Robben-Move von Kingsley Coman – Grundschulaufgabe für jede Verteidigung – brockte den Bayern die Fernduellführung ein. Der BVB löste seine Aufgabe klar besser, als vor dem 0:1 zwei Dortmunder um die Wette vor dem Ball davonliefen, sodass Hanche-Ohlsen den Kopfball setzen konnte. Onisiwo wurde durch konsequente Mann-Nichtdeckung erfolgreich zum 0:2 eingeladen. Auf beiden Plätzen geschah von nun an das Gleiche (die Wahrheitsdrohne wusste nie, welches Stadion sie gerade überflog), Ballgeschiebe entlang der Strafraumlinie. Ein Unterschied vielleicht: Die Roten wählten die eigene, die Gelben die gegnerische Linie zum Schieben. In beiden Fällen waren eigene Treffer ausgeschlossen und dem Gegner jederzeit Tür und Tor geöffnet.

Zwischendurch gab es einen Elfmeter für Dortmund, obendrein noch berechtigt – Biene Maja in Not. Dabei ereignete sich eine von zwei Schlüsselszenen, die zur Deutschen Nichtmeisterschaft geführt haben. Die Wahrheitsdrohne enthüllt! Sebastien Haller, dem Elfmeterschützen, fallen vor den Augen von Millionen TV-Zuschauern plötzlich beide Augendeckel runter. Er tritt im Grunde blind auf den Ball und hätte trotzdem fast getroffen, aber Dahmen hält. Der Kelch beziehungsweise Pokal geht knapp am BVB vorbei. Plötzlich schwenkt die Kamera der sky-Bildregie zu einer verstörenden Szene auf die Tribüne: Matthias Sammer atmet erleichtert auf, beugt sich zu dem benachbarten Hans-Joachim Watzke und zieht dessen rechtes Bein von dessen linkem Bein herunter. Ganz langsam, damit wir es alle verstehen: Herrn Watzke scheint es trotz seiner vorgezogenen Totenstarre gelungen zu sein, eines seiner Beine über das andere seiner Beine zu schlagen oder, falls das nicht übertrieben klingt, regelrecht zu legen! Und Herr Sammer greift nach dem verschossenen Elfmeter nicht etwa an ein eigenes Bein, nein, er nimmt ganz deutlich und beinahe selbstverständlich das rechte Bein von Hans-Joachim Watzke, hebt es von dessen linkem Bein herunter und stellt es neben Hans-Joachim Watzke auf den Tribünenboden.

Halten wir die Spannung dieser Szene für einen Moment aus und schauen noch einmal auf den anderen Platz des Fernduells, nach Köln. Dort ist der FC die bessere Mannschaft und kann jeden Augenblick den für Bayern München erlösenden Ausgleich schießen. Die 73. Minute bricht an. Drei Kölner verabreden sich zu einem Konter und stürmen auf Jan Sommers Kasten zu. Da geschieht das Unfassbare. Im Köln-Müngersdorfer Rasen – wenige Meter vor dem Strafraum – schießen zwei Rasensprinkler aus ihren Versenkungen, rollen wild mit den Düsen und spritzen die Angreifer scharfstrahlig nass! Der Schiedsrichter pfeift ab, der Angriff misslingt und die Bayern führen weiter, ohne zu wissen warum.

Es fallen noch die restlichen Tore. Dann ist die Bundesligasaison zu Ende und Bayern München Deutscher Meister. Alles scheint wie immer zu sein. Auf der Bayern-Pressekonferenz lenkt man vom Fußball ab auf das Geistige. Thomas Tuchel spricht, nach ihm Uli Hoeneß über das von Tuchel Gesprochene: „Eine druckreife Ausdrucksweise. Das ist Bayern München. Er hat diesen Verein in zwei Tagen verinnerlicht.“ Die bei Borussia Dortmund versammelte Presse gratuliert Hans-Joachim Watzke zum Erreichen des Saisonziels und erinnert an dessen Aussage vor dem Spiel: Edin Terzic sei ein Mann, „der die Seele von Borussia Dortmund kennt“. Der FAZ-Kollege zitiert sich aus der Samstagsausgabe selbst: „Besondere Kenntnisse des Innersten des Arbeitgebers sind ja überall hilfreich.“ Auf welchem Weg er denn ins Innerste seines Arbeitgebers gedrungen sei, fragt er Terzic. Dessen Augen sind leer, der Blick ist tot. Als Antwort genügt das. In Dortmund sind alle zufrieden.

Bis der Pfingstsonntag anbricht. Hans-Joachim Watzke ruft das Präsidium der Deutschen Fußballliga zusammen und gesteht: Er hat den letzten Spieltag manipuliert. Der Geist Gottes habe ihm vor zwei Stunden befohlen die Wahrheit zu sagen.

Und die sehe aus wie folgt: Die Steuerung der Sprinkleranlage in Köln-Müngersdorf habe er persönlich gehackt. Aus seiner ersten Berufstätigkeit für ein Unternehmen, das Feuerwehrschläuche herstellt, verfüge er über einiges Wissen im Bereich Bewässerungstechnik. Mitgeholfen habe Edin Tersic, dessen Vater Schlosser gewesen sei und dem Sohn außer Fußballtricks auch technische Kenntnisse vermittelt habe. Die Stürmer des 1. FC Köln habe man gechipt und die Sprinkleranlage des Stadions so programmiert, dass per WLAN gemeldete Kölner Angriffe über einer bestimmten Harmlosigkeitsschwelle durch Ausfahren der Sprinklerköpfe gestoppt würden. Allein auf die eigene Unfähigkeit habe Borussia Dortmund sich dieses Jahr nicht verlassen können. Bayern München sei diesbezüglich zu einem echten Konkurrenten „herangereift“, wie Watzke sich ausdrücken wolle.

Dann müsse den Bayern die Meisterschaft aberkannt werden, befand man. Und weil Dortmund Urheber der Manipulation sei, könnten auch sie nicht Meister werden.

Genau, sagte Watzke. Und moralisch gehe das auch nicht, fügte er hinzu, weil nämlich er und Matthias Sammer einen Fluch über Sebastien Haller verhängt hätten vor dessen Elfmeter. Er, Hans-Joachim Watzke, habe sein rechtes (in übertragener Bedeutung: Hallers Schuss-)Bein über sein linkes Bein gelegt, wodurch die Schusskraft von Sebastien Haller blockiert worden sei. Das sei Voodoo, er habe das von einem Mentaltrainer des Vereins. Anschließend habe Matthias Sammer ihm geholfen, sein Bein wieder von seinem anderen Bein herunterzukriegen, was für die Wirksamkeit des Fluchs sehr wichtig, ihm aber wegen Altersbeschwerden nicht selbst gelungen sei. Matthias Sammer sei daher als Mittäter anzusehen.

Es sind immer drei

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Wenn die Vögel singen und der Holunder blüht, bereiten volljährige Teenager sich auf das Abitur vor. Genauer der aufstrebende Teil derselben. Die Wahrheitsdrohne fliegt irritiert zwischen rauchenden Köpfen einer Lerngruppe hin und her. Die Frühlingssonne wurde als Einladung missverstanden, sich im nasskalten Gras eines Parks niederzulassen. Wer eine Blasenentzündung kriegt, nimmt den Nachschreibtermin, notfalls den zweiten. Es geht ins schriftliche Deutsch-Abi.

Woyzeck hat eine Persönlichkeitsstörung, stellt Sarah fest. Wegen der Erbsen, erläutert Tobias. Mir schmecken die auch nicht, fühlt Berzan sich in den Protagonisten ein und will sein Urteil begründen: Kennt ihr Erbsensuppe? Alina bleibt bei der Persönlichkeitsstörung: Der dreht am Rad, weil die Alte ihm fremdgeht. Versteh ich sogar irgendwo. Alina hat sich von ihrem Freund getrennt, um besser fürs Abi lernen zu können. Ihr Exfreund lernt Mechatroniker, versteht nicht, was Abitur bedeutet. Leider wird Alina jetzt nicht zum „Ball des Heeres“ nach Berlin fahren, wo ihr Exfreund mit ihr tanzen wollte, bevor er zur Bundeswehr geht. Sarah hingegen hat ihren Freund noch. Der will zur Polizei. Mein Freund müsste diese Erbsendiät machen, ruft Sarah, weil man beim Lernen auch mal einen Witz macht. Vielleicht würde er dann den Body-Mass-Index der Polizei schaffen. Ja, macht der keinen Sport oder was? Doch, aber es reicht nicht. Schweigen. Pessimistische Vergewisserung: Mit Abitur kann man erst mal studieren und irgendwas wird man dann schon, sagen alle. Und man verdient besser.

Irgendwas mit Gesellschaft war da noch, mahnt Tobias. Die Gesellschaft ist auch schuld. Ja, weil da gabs diese Stände, pflichtet Alina bei. Der obere Stand hat die Unteren diskriminiert. Und was war noch mal dieser Pauperismus? Keine Ahnung, Sarah muss passen. Den hab ich schon in Geschi nicht kapiert, da kam der auch vor. Pauperismus bedeutet Armut, erklärt Berzan. Die Ernten waren schlecht und es gab noch keine Supermärkte, wo man das Essen von woanders kaufen konnte. Ich kapier nicht, warum wir diese uralten Bücher lesen, beschwert sich Sarah. Das betrifft uns doch alles gar nicht. Gibts denn keine neuen Bücher oder sind die alle zu schlecht oder was? Das sind Klassiker, bremst sie Berzan. Außerdem, wollen wir jetzt lernen oder über die Schule diskutieren? Genau, meint Tobias. Drei Gründe reichen normalerweise. Erbsen, Eifersucht, Gesellschaft. Auf, weiter. Was war los mit diesem Faust?

Schweigen. Faust ist dieses Jahr der Unbeliebteste. Man erlebt eine Zeitenwende, es herrscht Inflation und dann läuft da ein Professor her, ist verbeamtet, verdient sechstausend brutto aufwärts, vögelt eine Vierzehnjährige, aber heult von Anfang bis Ende nur rum.

Tobias sucht die nächste Trias: Faust macht drei Entgrenzungsversuche – welche sind das? Alina traut sich: Zaubern, Osterspaziergang, Teufelspakt. Was ist an einem Spaziergang entgrenzend? fragt Berzan. Keine Ahnung, Alina klingt beleidigt. „Vor dem Tor“ heißt das Kapitel, also vielleicht: Er geht durch ein Tor. Er geht aus der ollen Studierstube raus. Immerhin geht er mal vor die Tür. Macht er ja sonst nicht. Sarah will jetzt auch einen Witz machen: Und braucht nicht mal den Hund dafür, weil der Pudel ist ja schon draußen. Nee, Leute, Tobias ist unzufrieden. Magie okay, Teufelspakt okay, aber da war noch was Drittes. Suizid! ruft Alina. Wieso Suizid? zweifelt schon wieder Berzan. Das ist doch die Grenze, da kommt doch nichts mehr. Oder doch? fragt Sarah. Ach so, wie in Reli meinst du, denkt sich Alina fächerübergreifend hinein in Sarah und weiter bis in Faust und hört plötzlich aus der benachbarten Kirche den Kirchenchor, der für den Ostergottesdienst probt: Christ ist erstanden! O nee, greift Tobias an seine Stirn, können wir weiterziehen? Das nervt jetzt echt, wenn man sich konzentrieren will. Man packt die Sachen und zieht in den hinteren Teil des Parks, wo nur noch die Vögel singen, die ihren Text geheim halten.

Es kann aber auch ein Zeitungsartikel drankommen, schockt Alina die Mitlernenden. Ja, oder sieben verschiedene Zeitungsartikel, setzt Sarah noch sechs drauf: bei „materialgestütztes Schreiben“. Tobias fällt rücklings in Gras, reckt die Arme gen Himmel: Wer liest bitte im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Zeitung? Dann sitzt er wieder und berichtet von einer verstörenden Erfahrung: Ich hab die Woche dem Nachbarn seine aus dem Briefkasten geklaut. So vor dem Abi mal eine, dacht ich. Kein Wort hab ich verstanden, Leute, ich schwöre. Um lauter B-Promis gings da, die keiner kennt, die irgendwelche Sachen gesagt haben, die keinen interessieren und das Ganze nennt sich Politik. Nee, wenn das kommt, gleich in den Papierkorb.

Und wenn noch ne Gedichtinterpretation dabei ist?

Dann halt das dritte.

Speckgürtel

Der innere Frankfurter ist von einem unerklärlichen Alter, stellt die Wahrheitsdrohne fest, als sie die Überschrift einer Email der Polytechnischen Gesellschaft überfliegt: „Paulskirchen-Jubiläum – Zeitzeugen gesucht“. Viele Häuser in Frankfurt sind schön, weil sie aus der Paulskirchenzeit stammen, in der die Handwerker noch Muße hatten zu ihrer Arbeit. Von der Paulskirche aus fliegt die Wahrheitsdrohne konzentrisch in den Frankfurter Speckgürtel. Hier sind die Häuser von einer Hässlichkeit, die sie zur freistehenden Existenz zwingt, damit die Hässlichkeit zwischen ihnen Platz findet. Die Wahrheitsdrohne fliegt in den Gastraum eines Eiffler-Systembäckers und kreist über einem Ehepaar, das frühstückt.

Na, ich bring den jetzt mal weg. Er geht drei Schritte, dreht sich um: Zu viel des Guten. Guck dich mal um, was da noch kommt. Muss alles noch auf den Tisch drauf.

Nach drei weiteren Schritten bringt er die letzte Aktivität des Tages zu Ende. Es ist 11:40 Uhr Ortszeit. Er stellt den seiner Meinung nach überflüssigen Teller in das Fach einer Geschirrrückgabe, dreht sich um und schafft es mit nur fünf Schritten zurück auf seinen Stuhl.

Jetzt wird gegessen. Das gibt Sicherheit. Beim Essen kommt alles zu dir, du musst wenig machen.

Er isst jetzt. Das sieht sehr sinnerfüllt aus, bietet allerdings wenig Unterhaltung. Das Leben ist nicht zum Spaß da. Er will jetzt Verschiedenes haben. Servietten fehlen.

Ich geh mal Händewaschen, sagt sie, wird aber auf halbem Weg zurückgerufen. Da sind keine Servietten. Da hinten sind welche.

Ja, ich geh nur eben …

Er hat sich jetzt beinahe dreihundertsechzig Grad umgedreht, erst nach Servietten, dann nach ihr. Was soll er denn noch machen? Einfache Dienste sind sofort zu leisten. Macht sie auch. Ist ja kein großer Umweg, da sind die Servietten. Ja, sagt er. Da sind sie. Das Leben plant noch so viele Anschläge auf ihn heute, an Kleinigkeiten kann er sich da nicht freuen. Das muss ja noch nicht das letzte sein, was fehlt, sagt er, gespannt, ob sie sich davon festhalten lässt an seinem Tisch, an dem nichts los wäre, wenn sie auf dem Klo wäre.

Sie geht trotzdem. Das, weiß sie, hat keine Konsequenzen. Die kleinen Freiheiten sind das Lösegeld für ihre Persönlichkeit, die sie lange genug als Geisel genommen hatte, obwohl sie rechtmäßig ihm gehört. So oder so ähnlich hat er ihr das mal erklärt.

Der Andreas ist jetzt mit der Roxy zusammen, berichtet sie ihm als erstes nach ihrer Rückkehr. Ja gut, lautet die Antwort. Er muss halt aufpassen.

Die Roxy, sag ich dir mal ganz ehrlich, kann froh sein, was sie da gekriegt hat. Das hat die vorher ja noch nie gehabt.

Ich weiß.

Du musst auch mal das Haus sehen, das der Andreas gebaut hat. So über der Firma angefangen hat das im ersten Stock und nachher sind zwei komplett neue Häuser dagestanden auf dem Hof. Das bewohnt die jetzt alles mit. Wenn das mal gut geht.

Sicher. Das musste können, sonst ist in nem halben Jahr alles kaputt und kein Geld da zum Reparieren. Handwerker sind auch keine. Das Frankfurter Pack interessiert das nicht, die lachen über uns, aber das ist mir egal. Gib mir mal die Butter da. Die iss doch übrig.

Ja, vielleicht die Hälfte?

Mit halben Sachen wollen wir gar nicht erst anfangen. Gib mir mal den Salzstreuer.

Den hat der Vorige hier stehenlassen.

Na komm, wie der auch schon ausgesehen hat.

Aber jetzt haben wir nen Salzstreuer und müssen nicht aufstehen und einen holen. Sieh es doch mal so.

Das ist Zufall. Wenn ich da auch noch drüber nachdenken müsste, könnt ich gleich den Löffel abgeben. Gib mir mal die Wurst.

Es ist ein Geben und Geben wie im Kuhstall beim Melken. Er würde aber auch selber nicht drankommen an die Sachen. Wenn er die Arme ganz ausstreckt, kann er die Hände gerade auf den äußersten Wulst seines Speckgürtels legen. Das macht er manchmal. Dann sieht er angestrengt aus wie andere beim Arbeiten.

Der will jetzt das Bad neu machen, der Andreas. Ich weiß nicht, wie der das machen will. Vielleicht mit den grauen Fliesen, die hast du doch damals auch …

Nur für die Duschwanne.

Ja, richtig. Nee, für das andere sind die nichts, hast recht. Ja, sowas weiß der vielleicht gar nicht.

Jede Fettzelle war früher ein Alptraum, ist genau gesehen immer noch einer, der aber eingeschlossen im Fett seinen Schrecken in Bewegungslosigkeit getauscht hat. Seit der Gürtel ihn aus seinen Alpträumen rettete, bewegt sich nichts mehr in ihm. Er kann seine Kräfte darauf konzentrieren, dass sich auch außerhalb von ihm möglichst wenig mehr bewegt, jedenfalls nicht in seine Richtung. Außer Essen.

Es ist eine Krankheit, sagen alle, die ihn sehen, und bemitleiden ihn. Es ist das Beste für dich, sagte die Krankheit und befiel ihn. Die Liebe seines Lebens.

Was ihn wahnsinnig machen würde, wenn er es wüsste, ist, dass er in seinem Inneren wie Frankfurt ist: Wenn er sich umsieht von seinem Panzerturm aus, sieht er nicht sich, sondern immer nur den Speckgürtel um sich und das hat dazu geführt, dass sein Denken von seinem Speckgürtel übernommen wurde, während sein Inneres in eine immerwährende Abwesenheit gefallen ist und er es nicht mehr spürt.

Die Paarversteherin

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© Ewart Reder

Im Haushalt tue ich, was ich kann. Was zugegeben nicht viel ist. Es geht aber nicht nur um das Was, finde ich, wichtig ist auch das Wie eines Tuns. Wenn ich zwei Adjektive nennen sollte, um die Art und Weise meiner Haushaltstätigkeit zu beschreiben, wären es „zuverlässig“ und „freudvoll“. Zuverlässig, weil ich, wenn ich das auch nicht mehr machen würde, als faul gelten könnte. Freudvoll, weil ich mich durch mein Tun minutenlang unangreifbar fühle. Aber ich sehe grad, die Spülmaschine möchte was zu dem Thema sagen:

Na ja, mich würde er eh im nächsten Satz erwähnen. Bin ich es doch, worauf seine Haushaltstätigkeit sich im Grunde beschränkt. Genauer eine Hälfte von mir: mich ausräumen. Wohin Geschirr und Besteck gehören, hat er auf rätselhafte Weise herausgefunden. Okay, nicht dass da nicht anschließend jedes Mal die obligaten Siebensachen noch rumliegen würden, die entweder angeblich neu oder deren Plätze angeblich seit je ungeklärt seien. Oder dass die Chefin nicht „zuverlässig“ ihre mindestens drei Ablageüberraschungen erleben würde jedes Mal. Aber gut, sehen wir es mal nicht so eng. Das macht er und das kriegt er irgendwie hin. Mich einräumen hingegen will die Chefin lieber selbst. Das mache er, wenn er es macht, auf so charakteristische Weise falsch, sagt sie, dass sie ihn dabei jedes Mal wieder kennenlerne. Was offenbar nicht ihre vorrangige Absicht ist. Dabei habe er doch seinerzeit, sagt die Chefin, das Auto, als man noch eins gefahren sei, so vorzüglich beladen jedes Mal vor der Urlaubsreise.

Ein Autokofferraum, wenn ich das einwenden darf, hat auch keine drei unterschiedlich hohen Fahrkörbe mit Features wie Klappstachelreihen für Teller, Tassenetageren, gezackten Kappenleisten mit Gläsersymbol und nicht zu vergessen Korbrollen, weil sonst die Dinger nicht fahren würden. In einen Kofferraum stellt man Sachen mehr oder weniger einfach rein. Wie übrigens auch in einen Geschirrschrank oder ein Tassenregal. Darüber hätte die Chefin mal nachdenken können: Warum kriegt er das hin? Was genau ist beim Mich-Einräumen das Kriterium, das er mit seinem Kenntnisstand und seinen motorisch-kognitiven Fähigkeiten unweigerlich reißen muss? Es hat etwas mit den Vorgaben zu tun, die ich für die Platzierung von Gegenständen in mir mache. Da kann man nicht einfach so angewuchtet kommen und irgendwelche Koffer noch im Laufschritt mit Schwung … Neee. – – – Da braucht es ein ausgeruhtes Auge. Einen kühlen Kopf. Jahrzehnte Erfahrung. Räumliches Vorstellungsvermögen gepaart mit im Laufe der Jahre unverrückbar gewordenen Grundsätzen, einer festen Reihen- und Rangfolge der zu berücksichtigenden Objekte sowie zu guter Letzt das berühmte Fingerspitzengefühl. Das fehlt den Männern ja so bemitleidenswert generell.

An der Stelle mache ich einen Perspektivwechsel. Bis hierher habe ich ausgeführt, wie sich die Dinge aus Sicht der Chefin ausnehmen und wie ich sie mit ihr gewöhnlich bespreche. Das spiegeln wir jetzt mal. Mich-Einräumen aus Sicht der männlichen Hilfskraft. Ganz einfach: Was drin ist, steht nicht mehr rum. Was zu spät kommt, bleibt draußen und fährt beim nächsten Mal mit. Merken Sie was? Die zwei Perspektiven sind miteinander prinzipiell unvereinbar. Das ist Krieg bis zum letzten Teelöffel ohne jede Chance auf eine Verhandlungslösung. Schade nur, dass die beiden das weder kapieren noch irgendeine Neigung entwickeln, ihre Unterschiedlichkeit als Reichtum zu erleben. Auch schade übrigens, dass sie entschiedene Gegner von smart home sind. Für mich wäre smart home die einzige Chance, mich über meine Beobachtungen mit einem intelligenten Gegenüber auszutauschen. Und für die beiden wäre die Chance noch größer: dass nämlich ein Konsilium aus kompetenten Küchen-, Büro-, Unterhaltungs-, Sport- und Erotikgeräten ihre Probleme besprechen und auf dieser Grundlage eine vernetzte Paartherapie entwickeln sowie durchführen könnte.

Die Geschmähte

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Neulich war ich in Kassel, weil ich sie noch mal sehen wollte, die documenta fifteen, falls es sie denn noch gab. Kunstausstellungen werden ja gerne verboten. Obwohl das Totschmähen und -schweigen doch effizienter ist (fernwestliche Weisheit). Tatsächlich habe ich sie bei bester Gesundheit angetroffen:

Guten Morgen, Herr Ewart Reder. Guten Morgen, Herr Volker Beck. Guten Morgen, Herr Sascha Lobo. Möge das Geschenk des Wassers Gottes Liebe aus Ihrer Dusche auf Sie herabregnen lassen. Der Süden hat eine Neuigkeit für Sie: Man muss Wasser gar nicht heizen. Das tu ich gern: teilen, was die ganze Welt weiß außer ein paar Gesellschaften, die sich als Vorleger des Bettes definieren, in dem das Geld mit sich selbst schläft – teilen mit diesen Gesellschaften. Lumbung, die Reisscheune, ist groß genug für alle. Auch für jüdische Menschen selbstverständlich und ganz besonders. Zweitausend Jahre Vertreibung, Ausgrenzung und Vernichtung sichern ihnen die Anteilnahme und Solidarität aller Menschen, von denen viel zu viele Vergleichbares erlebt haben. Nicht Gleiches. Begriffe machen Besonderes gleich, darum erzähle ich lieber. Dass ich Fehler mache, weiß ich, bevor ich sie mache, darum tun sie mir aber nicht weniger leid hinterher. Vielleicht wussten manche nicht, dass der Staat Israel, der viel Gutes hat, seine Regierung und seine Armee Verbrechen begehen. Dann kommt hier die nächste Neuigkeit aus dem Süden: Alle Staaten, Regierungen und Armeen tun das. Und wieder erzähle ich lieber: Deutschland unterstützt, bewaffnet und befähigt damit die Türkei, Volksgruppen in ihrem Südosten und außerhalb ihres Staatsgebiets anzugreifen. Übrigens: Von Opfern dieser Aggression stelle ich eine Kunstdefinition aus, ein Mann aus Rojava erklärt die traditionellen Liebeslieder seines Landes folgendermaßen: Alles hat zu tun mit der Schönheit der Frauen, die alles um sie herum in Schönheit verwandelt und damit in Kunst. Wie gesagt, ich mache Fehler – du darfst auch welche machen. Hiermit spreche ich Menschen an, die das bestehende Weltverhältnis normal und in Ordnung finden. Jede/r kann lernen, sich korrigieren, und ich persönlich will das mehr als alles andere. Lernen. Wie ich zum Beispiel selber gerechter werde. Sodass mich auch Menschen ohne Geld besuchen können. Oder dass nicht alles, was es in meiner Nähe zu essen gibt, das Doppelte kostet wie im Rest von Kassel. Oder dass die sobat-sobat = „Freunde“ = Kunstvermittler:innen nicht die eigenen Masterarbeiten und Kulturkontakte wichtiger finden als die Menschen, die sie führen, oder die Kunst, die sie zeigen. Oder dass die Besucher:innen ihre Meinung sagen können auch außerhalb der spärlichen von mir geschaffenen Gelegenheiten, die gerne weiter geflüstert werden und nur halb öffentlich gemacht. Und dass hoffentlich meine Künstler:innen nicht schon nächstes Jahr das Gleiche sind wie die Auserwählten anderer internationaler Kunstausstellungen: gemachte Leute. Also unecht.

Der Mauerfäller (West)

Ich stehe an einem Bahnsteig und versuche, nicht von einem der Tausende neben mir in das Gleisbett gestoßen zu werden. Was es in solchen Situationen nicht gibt, sind ein Zug und die Aushaltbarkeit der Situation. Außerdem hängt hier kein Flachbildschirm, mit dem ich ruhiggestellt werden könnte. Als ich gerade durchdrehe, steht ein überdimensionales automatengedrucktes Neun-Euro-Ticket vor mir in der Luft, flattert mit den Papprändern und schreit mich und die Mitwartenden an:

Hey Leute, habt ihr noch Bock?! Ich hab noch so was von Bock!! Grad mal zwei Monate Wahnsinn und schon wieder seelenruhig zu Hause sitzen?? Niemals!! Aller Wahnsinns Dinger sind drei!! Herein spaziert in die gute Tube, ich spritz euch in den hintersten Winkel Deutschlands!! Nach Sylt? Na warum denn nicht auf die Flachwichser-Pflegeinsel! Zugspitze? Aber ja, immer druff, bisse oben platt iss! Wie bitte?? Ob ich was ohne Ausrufezeichen sagen könne.

Klar:

Fällt – heute – aus. Grund dafür ist ein kurzfristiger Personalausfall. Wir bitten um Entschuldigung.

Hintergrund: Das Personal sitzt kurzfristig in der Klapsmühle. Ja Leute, ihr müsst auch nicht alle gleichzeitig. Das funktioniert doch nicht. Werdet mal ein bisschen digitaler. Schwarmintelligenz – schon mal gehört? Der Provinz auch mal die Chance geben. Oder mal Mittwoch Mitternacht. Stattdessen quetscht ihr euch alle dahin, wo es nett ist, und nur am Wochenende. Werktags, die ganzen Berufspendler – die braucht doch keiner. Nehmt einfach deren Züge, möglichst mit Fahrrad, dann habt ihr ganz schnell eure Ruhe und die Industrie auch. Bloß weil dreimal so viele Leute Zug fahren, lassen wir doch nicht mehr Züge fahren. Und wenn wir sie hätten – das würden wir nie tun!

Ich sage „wir“, weil ich ein Ministerkind bin. Ich regiere mit. Wusstet ihr eigentlich, dass mein Dad, der Volker, ein richtiger Spaßvogel ist? Er gilt als langweilig, aber das Gegenteil ist wahr. Ein Lauser ist das, ein Streichemacher. Der freut sich total über mich. Ihr wisst ja nicht, wie langweilig regieren ist. Da muss man mal was Verrücktes machen wie mich. Also der Volker ist zufrieden mit mir. „Du hast einen Modernisierungsschub ausgelöst“, sagt er zu mir. Komplimente muss man nicht verstehen. „Durch dich ist der ÖPNV digitaler geworden.“ Kapier ich auch nicht. „Einfacher geworden.“ ?? „Stärker auf die Fahrgäste ausgerichtet“. ??? „In weniger als 0,1 Prozent der Züge musste das Sicherheitspersonal eingreifen.“ Das stimmt, weil in weniger als 0,1 Prozent der Züge irgendwelches Sicherheitspersonal auftaucht. Egal, der Volker hat einen englischen Nachnamen, auf Deutsch bedeutet er: der Wissende. Vor allem freut sich der Volker über mich und das ist es, was für ein Kind zählt.

Ich bin sogar ein bisschen stolz auf mich. Im Grunde bin ich der westdeutsche Mauerfall. Auf einmal können die Menschen reisen! Die Mauer der Armut um sie ist gefallen (für einen Sommer). Jetzt sehen sie das Land, das sie bisher nur aus dem Westfernsehen kannten. Sogar die Gefängnisse werden bald leer sein in Deutschland. Fünfzigtausend Menschen sitzen gerade in einem deutschen Knast, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Die häufigste dieser Strafen ist die fürs Schwarzfahren.

Zum Schluss verrate ich euch noch ein Geheimnis. Aber bitte sagt es nicht dem Volker. In Wirklichkeit hat mich Robert Habeck gezeugt, und zwar im Auftrag der Automobilindustrie. Kein Autofahrer, der für neun Euro mal mit einem Regionalzug gefahren ist, traut sich das jemals wieder. Zum Psychiater geht er: Herr Doktor, habe ich das alles geräumt? Und dann rennt er ins nächste Autohaus.

Dein Zug!

„Mein Zug kommt“, verabschiede ich mich und beiße mir auf die Zunge, dass mir keine dümmere Ausrede eingefallen ist, um dem langweiligen Gespräch zu entkommen. „Welcher Zug?“, fragt mein Gegenüber, „glauben Sie an fahrende Züge? An den Storch glauben Sie wohl auch noch.“ Ich drehe mich um und gehe unentschuldigt. Da schwebt eine Dieselwolke vom Himmel herab und entbindet einen Regionalzug, der Folgendes zu mir spricht:

Du hast mich mächtig angezogen / an meiner Sphäre lang gesogen. / Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen / fasst Fahrgast dich! Wo bleibt der Freudenruf / zu dem die Deutsche Bahn dich einst erschuf? / Bist du es, der von meinem Rauch umwittert / in Altmetallwaggons das Land durchzittert, / ein wie Verkehrswege gekrümmter Wurm? / Auf Ausfallplänen, im Lügensturm / fahr ich hin und her, / schlaf ich ein und aus! / Im Durchsagen-Lügenmeer / und in deiner Phantasie zu Haus. / Ein wechselndes Fehlen / ein Zeit-und-Geld-Stehlen / so schlaf ich auf dem Webstuhl der Zeit / als Gottes mobile Unsichtbarkeit!

Aber ich seh schon: Klassik tröstet dich auch nicht. Dauerkarteninhaber, du dauerst mich. „Host dem Auto abgeschworn, hot sich’s fia di ausgefohrn.“ Ist noch vom Andi, dem alten Verkehrsmistbauer. Der neue kann gar kein Bayerisch, ich frag mich, wie der das CSU-Wahlprogramm fehlerfrei abschreiben konnte. Aber ich merk schon, Politik ist auch nicht so deins. Du reist gerne? Ja, das ist grad schlecht. Die Zeiten haben gewendet, weißt du: U-Turn gemacht und weg. Überall Vergangenheit. Aktuell ist Verweilen angesagt. Wie viele deutsche Bahnhöfe kennst du überhaupt? Behauptet, ich würde nirgends mehr fahren, und belegt seine Behauptung mit fünf bis sieben Heimatbahnhöfen. Da beleg ich jedes Gleis wahrscheinlicher als der die Tatsache meines Nichtvorhandenseins. Man kommt schließlich mit dem Fahrrad auch zum Bahnhof. Einfach mal Fresse halten und die Bahnhöfe des Heimatlands abradeln! Ich könnt grad neidisch werden, ich weiß gar nimmer, wie ihr ausschaut, ihr stillen Guten allüberall.

Trotzdem sage ich: Garage ist besser. In der Garage geht nichts kaputt. Also nicht, weil nichts mehr ganz wär. Sondern, weil da ganz andere Bedingungen herrschen. Garagen sind die Bodenhaltung der Fahrzeuge. Ein Fahrzeugwohllabel ist meines Wissings schon im parlamentarischen Verfahren. O Gott, das klingt so nach „Fahren“ …! Nee, langsam, die Mehrheit kommt zu Stande, read it from my screen. Immer bloß die Tierarten werden gerettet – wir Züge sterben auch aus! Der landesweite Museumsstatus muss jetzt kommen und dann darf kein Weiß- oder Schwarzfahrer mehr in uns fahren dürfen. Dann muss jeder stehend von der Bahnsteigkante Abstand halten müssen, und zwar von uns. Da kann es keine zwei Meinungen mehr geben und am besten gar keine mehr. Nur noch die Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig. Reicht doch. Was für die Deutsche Bahn gut ist, kann für Deutschland nicht schlecht sein. STOP STOP STOP = Deutschlands Galopp!

Ach komm, jetzt ist er mir eingeschlafen, der Fahrgast. Na den werd ich wecken. Der wird vor seinem fahrplanmäßig erwarteten Zug noch mal einschlafen! Ganz leise alles Liebe ins Ohr geflüstert:

Dein Zug!

Schachmatt!! – – – Ääh. – Wiebittewass??

Sorry. Ist mir noch nie passiert: In der eigenen Kolumne eingeschlafen! Peinlich.

Aber was hatte ich auch für einen süßen Traum! Einen Schach–Traum. Grad hatte ich einem rot-gelb-grünen König Matt IN EINEM ZUG angesagt …