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Rotkäppchen und der braune Wolf

Denke ich an die neueren, längst nicht mehr neuen Wahlergebnisse in Europa, packt mich das Grauen. Rechts außen braucht es keine Argumente, kein bürgerliches Mäntelchen und nicht mal den Mindestleumund der Gesetzestreue mehr – die werden immer gewählt. Der Gedanke beschleicht mich, die bürgerliche Mitte könnte schon so schwach sein, dass ich ihr etwas Gutes tun muss. Sie wählen zum Beispiel. Um das noch Schlimmere zu verhindern. Von der Weimarer Republik erzählt man sich, sie sei untergegangen, weil die Mittelparteien nicht mehr gewählt wurden. Daran ist ein Haken, den ich in einer Koproduktion mit den Gebrüdern Grimm zu bezeichnen hoffe.

Reden wir über Rotkäppchen, das liebe Arbeitermädchen, das alle gernhatten und das solidarisch handelte mit den Schwachen. Wie der Name sagt, die Kappe zeigt und die Einstellung beweist: Rotkäppchen war links. Als nun das liebe Rotkäppchen erfuhr, dass es seiner bürgerlich-parlamentarischen Großmutter schlecht gehe, wollte es nicht säumen sie zu besuchen und ihr zu bringen, was die Gesundheit der betagten Frau wiederherstellen konnte. Kuchen und Wein, so viel ein proletarischer Haushalt davon hergibt, packte die Mutter in Rotkäppchens Korb. Aber Rotkäppchen wusste, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch etwas Schönes braucht. Darum ging es bewusst vom Weg ab, als es die hübschen Blumen auf der Wiese sah, brauchte dafür nicht den Ratschlag des durchtriebenen Wolfs, sondern nur Augen im Kopf und, zum Pflücken, Hände an den Handgelenken, proletarische Grundausstattung. Schon hatte es beisammen, was die bürgerliche Großmutter gernhatte und von ihren arbeitenden Kindern und Enkeln auch pünktlich einforderte.

Dem bösen Wolf ist Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter also gar nicht begegnet, behaupte ich (auch wenn der Grimm der Gebrüder mich von hier an verfolgt). Sie hat zwar von ihm gehört, weiß, dass er gerne Menschen frisst und da angeblich nicht wählerisch ist, alte Damen genauso mag wie Mädchen mit rotem Barett. Aber das sind Medienberichte. Man weiß nicht, was dran ist. „Warum sich um sowas einen Kopp machen?“ denkt Rotkäppchen, geht frohgemut zum Haus der Großmutter – einer stattlichen Villa mit Garten, der alles trägt, was Rotkäppchens Familie gern hätte – und klingelt. Nach der Gesichtserkennung durch die Sprechanlage und einer partiellen Deaktivierung der Alarmanlage tritt Rotkäppchen ein, geht zum Schlafzimmer der Großmutter und macht erst mal ein Kompliment: „Oma, du siehst aus wie immer.“ Dann erkundigt es sich nach dem Ergehen. Oh, ganz schlecht sei das, heißt es. Auf Lebensmittellieferungen und Blumensträuße müsse die Großmutter immer länger warten. Der Egoismus der Produzierenden nehme krass zu, andauernd streiken würden die. Neuerdings gebe es sogar Lieferkettengesetze und Pflanzenschutzauflagen, als ob Steuerlast und Bürokratie für ihresgleichen nicht schon lebensbedrohlich genug wären. Das Land „Euer Opa“ sei nicht mehr wettbewerbsfähig und sie, „euer aller Oma“, lasse sich nicht länger von selbstsüchtigen Nachfolgegenerationen auf der Nase herumtanzen. Andere Saiten würden jetzt aufgezogen, schreit die Großmutter und rasselt dazu mit einem Schlüsselbund, das Rotkäppchen noch nicht kennt.

„Hier sind Kuchen und Wein“, versucht es Rotkäppchen, „und da ein hübscher Blumenstrauß.“

„Zu spät“, schnauzt die Großmutter, wobei rechts und links in ihrem Maul stattliche Reißzähne aufblitzen. „Komm mal mit, Kleines“, sagt die angeblich Kranke, springt aus dem Bett und zieht Rotkäppchen hinter sich her durch Haus und Garten zu dem Tor eines weitläufigen Zwingers, in dem Rotkäppchen sogleich den Wolf erblickt. Er ist braun, was Rotkäppchen irritiert, sieht sonst aber aus wie im Schulbuch. Die Großmutter steckt mit der Rechten den Schlüssel ins Torschloss und reckt den Zeigefinger der Linken hoch in den Himmel. „Das habt ihr nun von eurer Frechheit. Mit diesem Wolf gemeinsam habe ich in Thüringen schon einen Ministerpräsidenten gewählt und Grunderwerbssteuern gesenkt. Den lasse ich jetzt raus und in mein Schlafzimmer. Das heißt, zu allererst lass ihn dich zu Rote Grütze pürieren und wegputzen.“

Rotkäppchen streckt ihrerseits einen Zeigefinger in die Höhe. Er zittert. Reflexartig nimmt die Großmutter ihr Enkelkind dran: „Ja, Rotkäppchen?“ Das Kind gibt alles, was es in der Schule gelernt hat, auch rhetorisch: „Großmutter, wenn du das machst, frisst der braune Wolf uns beide, das hat er nämlich schon ganz oft gesagt.“

„Pech, Grünschnabel, dass du es geglaubt hast“, sagt die Großmutter. „Der Wolf da frisst keine Inhaberin einer Bankkarte, deren PIN er nicht kennt. Uns mag er nicht, aber unser Geld. Und wenn wir ihm zeigen, wie er drankommt, mag es uns auch irgendwie.“ Damit öffnet die Großmutter das Zwingertor. Rotkäppchen fragt sich, ob der Wolf es lange neben der Großmutter in deren Bett aushalten wird. Es ist Rotkäppchens letzter Gedanke.

Moral aus der Historie: Wenn die Mitte bereitsteht dafür, die extreme Rechte an die Macht zu bringen, ist die Mitte kein Schutz, sondern die akute Hauptgefahr.

Moral-PS: Von links mit der Mitte koalieren kann helfen – so lange kommt Rechts nicht dran.

Moral-PPS: Die angeblich rechten 16- bis 24jährigen Deutschen haben bei der Europawahl genauso viel AFD gewählt wie der Durchschnitt – aber nur gut halb so viel CDU!

Wir Wärmetauscher

Schon wieder mag ich eine Sache, die alle hassen. Warum bin ich immer anders und die anderen sind immer gleich? Das ist doch ungerecht. Aber ich sag erst mal, was es ist, das ich mag: Ich mag Hitze. Gleich der Aufschrei, sobald ich mich zu meiner meteorologischen Orientierung bekenne: Was, du magst es, dass wir aussterben? Hitze ist Völkermord! Vor allem ist Hitze eklig, da klebt doch alles! Die ganze Farbe läuft ins Gesicht und die Schokolade ist nicht mehr stückig, sondern braune, klebrige Schmiere an den Fingern, igitt!

Ja gut. Manche Sachen sind halt eher was für den Winter. Das heißt doch nicht, dass eine ganze Jahreszeit Scheiße ist, weil man da diese Sachen besser nicht macht. Hetzt irgendjemand gegen den Winter, weil man da beim Draußen schwimmen friert? Nein. Er und sie schwimmen einfach drinne. Flexibilität heißt das Baby. Offen sein für Veränderung.

Ich freue mich jedes Jahr zuerst darüber, dass es warm wird. Da sind ja auch die meisten noch dabei. Aber warum soll ich mich nicht weiterfreuen, wenn es heiß wird? Das ist derselbe Vorgang, nur intensiver! Meinetwegen freue ich mich auch, wenn das Thermometer im September mal unter fünfundzwanzig fällt. So für ein, zwei Tage. Viel länger hält meine Flexibilität allerdings nicht. Ganz schlimm finde ich, dass es irgendwann kalt wird. Und von da an finde ich das Schlimmste, dass es praktisch immer nur noch kälter und kälter wird. Daran möchte ich am liebsten gar nicht denken.

Muss ich auch nicht. Es sind sechsunddreißig Grad heute. Wolkenlos hat der Tag begonnen. Mittlerweile stehen die süßesten Wölkchen der Himmelskonditorei im Schaufenster. Vögel singen, als wären sie eigentlich Sänger, die na-du-weißt-schon-was machen und sich dabei so freuen, dass sie singen. Jede einzelne Blüte, jedes einzelne Blatt und vor allem alle Blüten und Blätter zusammen DUFTEN! Da helfen nur noch Kursiv und Versalien, sorry, Wörter kommen da nicht hinterher. Was ist denn hier los?? schreit die Nase ununterbrochen, kann nicht fassen, dass hinter der Fototapete Welt die geilste Parfümerie des Universums Monate lang gewartet hat darauf, zu explodieren. Die Menschen haben kaum was an und bei der einen Hälfte von ihnen fällt mir keine der Sachen mehr ein, die sie vor Wochen alle noch angehabt haben müssen. Ich möchte an diese Sachen am liebsten auch gar nicht denken.

Muss ich auch nicht. Denken ist ohnehin nicht die Hauptsache, die ich noch betreibe. Es gibt so vieles. Denken verdankt sich einem Mangel an Gegebenheiten, zwischen denen es assistierend vermittelt. Quasi um sie aufzufüllen. Wie französisches Nougat zwischen Pistazien. Sowas ist bei dem Angebot des heutigen Tages absolut überflüssig. Alles wirkt durch sich selber, erklärt sich selber oder gibt dir einen Kuss, nach dem du dich über jede Vorstellung von einer Erklärung nur noch kaputtlachen kannst.

Da kommt die Wahrheitsdrohne angebrummt, wirbelt hektisch mit den Rotorblättern und flüstert in mein Ohr: Sei still, aber sofort! Niemand empfindet wie du. Alle hetzen sie gegen die Hitze.

Ach so? Ja was hat man denn so, als kochende Volksseele, gegen die Hitze?

Also: Erst mal das, was oben in dieser Kolumne steht. Dann, dass es nicht deutsch sei. Deutschland habe ein deutsches Wetter gehabt und das neue Wetter sei aus dem Ausland nach Deutschland eingewandert. Ferner, dass die Ausländer überhaupt nie mehr weggehen werden, wenn sie auch noch ihr eigenes Wetter bekommen mitten in Deutschland. Dann, dass die meisten Deutschen bei dem ausländischen Wetter wegsterben werden und dies natürlich auch so geplant sei. Und schließlich, dass das der eigentliche Große Austausch oder Allergrößte Austausch von allen, ganz wie man wolle, sei: der Austausch des Wetters. Damit brauche man das Volk nämlich nicht weiter auszutauschen, da es erstens wegsterbe und zweitens innerlich nicht mehr deutsch sei, sondern ausländisch, sobald es sich gegen das fremde Wetter nicht mehr wehre, sondern dasselbe auch noch gut finde und darum: Halt die Schnauze von wegen „Ich mag die Hitze“ und den Scheiß. Petz die Augen zusammen, guck grimmig in die Sonne, schüttele drohend deine Faust und rufe aus: „Na warte, ihr da oben, das Volk sind immer noch wir. Das Wetter bestimmen immer noch wir. Für unser deutsches Wetter sind wir sogar bereit, unser Wahlergebnis an das Thermometer zu binden, derowegen rufet alle im Chor:

Durch Hagel, Kälte, Wind und Regen:

Der blitzeblauen Null entgegen!“