Der innere Frankfurter ist von einem unerklärlichen Alter, stellt die Wahrheitsdrohne fest, als sie die Überschrift einer Email der Polytechnischen Gesellschaft überfliegt: „Paulskirchen-Jubiläum – Zeitzeugen gesucht“. Viele Häuser in Frankfurt sind schön, weil sie aus der Paulskirchenzeit stammen, in der die Handwerker noch Muße hatten zu ihrer Arbeit. Von der Paulskirche aus fliegt die Wahrheitsdrohne konzentrisch in den Frankfurter Speckgürtel. Hier sind die Häuser von einer Hässlichkeit, die sie zur freistehenden Existenz zwingt, damit die Hässlichkeit zwischen ihnen Platz findet. Die Wahrheitsdrohne fliegt in den Gastraum eines Eiffler-Systembäckers und kreist über einem Ehepaar, das frühstückt.
Na, ich bring den jetzt mal weg. Er geht drei Schritte, dreht sich um: Zu viel des Guten. Guck dich mal um, was da noch kommt. Muss alles noch auf den Tisch drauf.
Nach drei weiteren Schritten bringt er die letzte Aktivität des Tages zu Ende. Es ist 11:40 Uhr Ortszeit. Er stellt den seiner Meinung nach überflüssigen Teller in das Fach einer Geschirrrückgabe, dreht sich um und schafft es mit nur fünf Schritten zurück auf seinen Stuhl.
Jetzt wird gegessen. Das gibt Sicherheit. Beim Essen kommt alles zu dir, du musst wenig machen.
Er isst jetzt. Das sieht sehr sinnerfüllt aus, bietet allerdings wenig Unterhaltung. Das Leben ist nicht zum Spaß da. Er will jetzt Verschiedenes haben. Servietten fehlen.
Ich geh mal Händewaschen, sagt sie, wird aber auf halbem Weg zurückgerufen. Da sind keine Servietten. Da hinten sind welche.
Ja, ich geh nur eben …
Er hat sich jetzt beinahe dreihundertsechzig Grad umgedreht, erst nach Servietten, dann nach ihr. Was soll er denn noch machen? Einfache Dienste sind sofort zu leisten. Macht sie auch. Ist ja kein großer Umweg, da sind die Servietten. Ja, sagt er. Da sind sie. Das Leben plant noch so viele Anschläge auf ihn heute, an Kleinigkeiten kann er sich da nicht freuen. Das muss ja noch nicht das letzte sein, was fehlt, sagt er, gespannt, ob sie sich davon festhalten lässt an seinem Tisch, an dem nichts los wäre, wenn sie auf dem Klo wäre.
Sie geht trotzdem. Das, weiß sie, hat keine Konsequenzen. Die kleinen Freiheiten sind das Lösegeld für ihre Persönlichkeit, die sie lange genug als Geisel genommen hatte, obwohl sie rechtmäßig ihm gehört. So oder so ähnlich hat er ihr das mal erklärt.
Der Andreas ist jetzt mit der Roxy zusammen, berichtet sie ihm als erstes nach ihrer Rückkehr. Ja gut, lautet die Antwort. Er muss halt aufpassen.
Die Roxy, sag ich dir mal ganz ehrlich, kann froh sein, was sie da gekriegt hat. Das hat die vorher ja noch nie gehabt.
Ich weiß.
Du musst auch mal das Haus sehen, das der Andreas gebaut hat. So über der Firma angefangen hat das im ersten Stock und nachher sind zwei komplett neue Häuser dagestanden auf dem Hof. Das bewohnt die jetzt alles mit. Wenn das mal gut geht.
Sicher. Das musste können, sonst ist in nem halben Jahr alles kaputt und kein Geld da zum Reparieren. Handwerker sind auch keine. Das Frankfurter Pack interessiert das nicht, die lachen über uns, aber das ist mir egal. Gib mir mal die Butter da. Die iss doch übrig.
Ja, vielleicht die Hälfte?
Mit halben Sachen wollen wir gar nicht erst anfangen. Gib mir mal den Salzstreuer.
Den hat der Vorige hier stehenlassen.
Na komm, wie der auch schon ausgesehen hat.
Aber jetzt haben wir nen Salzstreuer und müssen nicht aufstehen und einen holen. Sieh es doch mal so.
Das ist Zufall. Wenn ich da auch noch drüber nachdenken müsste, könnt ich gleich den Löffel abgeben. Gib mir mal die Wurst.
Es ist ein Geben und Geben wie im Kuhstall beim Melken. Er würde aber auch selber nicht drankommen an die Sachen. Wenn er die Arme ganz ausstreckt, kann er die Hände gerade auf den äußersten Wulst seines Speckgürtels legen. Das macht er manchmal. Dann sieht er angestrengt aus wie andere beim Arbeiten.
Der will jetzt das Bad neu machen, der Andreas. Ich weiß nicht, wie der das machen will. Vielleicht mit den grauen Fliesen, die hast du doch damals auch …
Nur für die Duschwanne.
Ja, richtig. Nee, für das andere sind die nichts, hast recht. Ja, sowas weiß der vielleicht gar nicht.
Jede Fettzelle war früher ein Alptraum, ist genau gesehen immer noch einer, der aber eingeschlossen im Fett seinen Schrecken in Bewegungslosigkeit getauscht hat. Seit der Gürtel ihn aus seinen Alpträumen rettete, bewegt sich nichts mehr in ihm. Er kann seine Kräfte darauf konzentrieren, dass sich auch außerhalb von ihm möglichst wenig mehr bewegt, jedenfalls nicht in seine Richtung. Außer Essen.
Es ist eine Krankheit, sagen alle, die ihn sehen, und bemitleiden ihn. Es ist das Beste für dich, sagte die Krankheit und befiel ihn. Die Liebe seines Lebens.
Was ihn wahnsinnig machen würde, wenn er es wüsste, ist, dass er in seinem Inneren wie Frankfurt ist: Wenn er sich umsieht von seinem Panzerturm aus, sieht er nicht sich, sondern immer nur den Speckgürtel um sich und das hat dazu geführt, dass sein Denken von seinem Speckgürtel übernommen wurde, während sein Inneres in eine immerwährende Abwesenheit gefallen ist und er es nicht mehr spürt.