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Notgemeinschaft

Meine Mutter nannte es „eine Husche“: Zehn Minuten regnet es aus allen Himmelsstockwerken, dann kommt die Sonne raus und scheint, als wäre nichts gewesen.

Grad kam so was runter. Zehn Minuten sah man das Vorderhaus nicht mehr hinter der Sturzflut. Jetzt schöpfen alle gemeinsam das Niedergeschlagene aus dem Keller. Wir drei vom Hinterhaus – meine Frau, ich und der Sohn, der uns gerade besucht – packen mit an. Bring your own device. Jeder schaukelt seine privaten Eimer, Kehrschaufeln, Schrubber und Besen für das Gemeinwohl. Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Mieter, spricht das Haus im Kaiser-Wilhelm-Slang.

Ortskundliches abstract: Wir wohnen unterhalb eines Hangs, der vollständig versiegelt ist. Das Wasser von oben läuft in dem Kanal einer Straße zusammen: unserer. Von wo aus es das Ablaufventil unseres Vorderhauskellers mitsamt dessen Fassung raus- und sich auf knapp einen Meter Höhe in den Keller reingedrückt hat.

Die Nachbarin von links oben ist in ihrem Element. Also nicht Wasser, sondern Gemeinschaft. Vor Corona feierte sie jedes Jahr um die Zeit ihren Geburtstag als Hoffest. Seit drei Jahren tobt die Miniaturausgabe davon auf ihrem Balkon. Heute, im Wasser vereint, steht endlich wieder ein Großteil der Nachbarn zusammen auf gemeinsamem Grund. Bildlich gesprochen. Im Grundbuch steht natürlich Onkel Horst, unser Vermieter, und verbittet sich die Verbrüderungsanteile an der Nachbarschaftshilfe. Egal, meine Nachbarin wird zum Faust. In Gummistiefeln „mit freiem Volk auf freiem Grund“ stehend ruft sie im Keller ein neues, postcoronales Arkadien aus:

„Im Innern hier ein paradiesisch Land,

Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,

Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,

Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.“

Unsere Kehrschaufel ist allerdings besser als ihre. Zum Wasserschippen geeigneter. Unsere gleicht einer Doppelgarage mit Stiel vor der Einfahrt. Du schippst fünf Mal und der Eimer ist voll. Bei ihrer, der Normalausführung, muss man schnell sein, damit das Wasser überhaupt mitkommt. Wir leihen ihr unsere Schippe aus. Jeder leiht jedem alles aus. Jeder trägt für jeden oder läuft, ganz wie es kommt, ohne Anweisungen. Wie im Kommunismus. Man schaut höchstens, welcher von den roten Eimern den weißen und welcher den schwarzen Henkel hat. Für später. Und dass man beim Laufen zum Gulli an keins der dreizehn Autos stößt, die auf dem Hof stehen.

Der Nachbar rechts oben ruft seinen Sohn an und der kommt helfen (er wohnt drei Häuser weiter, muss man dazusagen). Jetzt helfen sein Sohn und mein Sohn in einem Haus, in dem sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr wohnen. Der Hausmeister ist aus Bosnien und hat ein schamanisches Wissen über Gewässerbewegungen. Konzentriert hockt er über der Wasseroberfläche und beobachtet Wellen, die wir Normalmietenden nicht sehen können. Die übrigen Ausländer aus dem Haus fehlen, da sie einer Berufstätigkeit nachgehen. Es ist eine recht deutsche Angelegenheit, was sich hier abspielt. Der Nachbar rechts oben missversteht das als Einladung zu der Diagnose: Was hier neuerdings wohne, sei asozial und habe keine Ahnung von Technik. Einer von denen habe das Ventil aufgedreht und jetzt hätten wir den Salat. Dass der Hausmeister widerspricht und erklärt, wie er das Ventil samt Fassung wieder in den Schacht zurückbauen musste, liegt daran, dass er aus Bosnien kommt, denkt mein Nachbar. Die Wahrheitsdrohne verrät mir das, kurz bevor sie aus dem Keller in die Nachbarschaft ausschwärmt, um mit dem Bericht zurückzukehren: Der hydraulische Kommunismus regiert die komplette Straße.

Ich schicke das Fluggerät zu Onkel Horsts Haus nachgucken, was unser Vermieter macht. Seine Tochter, die (noch) nichts zu sagen hat, schippt mit uns, steht knietief mit Leuten im selben Wasser, deren Vermögen neben dem ihren in keinem Diagramm der Welt sichtbar zu machen wäre. Ich erzähle ihr (warum, weiß ich nicht), wie es zum Bau des Vorderhauses überhaupt kam. Fünfzig Jahre mag das her sein. Die denkmalgeschützte Scheune, die hier stand, habe der Vater, wie er mir mal erzählt hat, abgerissen am ersten Urlaubstag des damaligen Denkmalschutzbeauftragten – eines Lehrers, wie Onkel Horst mit kindlicher Heiterkeit dreimal wiederholte.

Die Wahrheitsdrohne kehrt zurück und berichtet, Onkel Horst packe für drei Wochen Sylt. Wer oder was Sylt ist, weiß er seit zwei Jahren nicht mehr, geschweige denn, wie man da hinkommt. Aber den Zweieinhalbtonner, den er auf unserem Hof parkt, um bei sich Platz zu sparen, bewegt er täglich. Fürs Autofahren braucht Onkel Horst keinen Tauglichkeitstest wie für seine Cessna, die seit einigen Jahren am Boden bleiben muss. Ich frage die Wahrheitsdrohne: Wenn Onkel Horst in seinen SUV steigt und die Tür zumacht, wo ist er dann – seiner Meinung nach? Die Drohne weiß es nicht. Demenz schlägt künstliche Intelligenz.

Ein Kommentar:

  1. Du bist schuld an dem Wetter, einer muss ja schuld sein 🙂
    Sehr treffender Text

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