Rotkäppchen und der braune Wolf

Denke ich an die neueren, längst nicht mehr neuen Wahlergebnisse in Europa, packt mich das Grauen. Rechts außen braucht es keine Argumente, kein bürgerliches Mäntelchen und nicht mal den Mindestleumund der Gesetzestreue mehr – die werden immer gewählt. Der Gedanke beschleicht mich, die bürgerliche Mitte könnte schon so schwach sein, dass ich ihr etwas Gutes tun muss. Sie wählen zum Beispiel. Um das noch Schlimmere zu verhindern. Von der Weimarer Republik erzählt man sich, sie sei untergegangen, weil die Mittelparteien nicht mehr gewählt wurden. Daran ist ein Haken, den ich in einer Koproduktion mit den Gebrüdern Grimm zu bezeichnen hoffe.

Reden wir über Rotkäppchen, das liebe Arbeitermädchen, das alle gernhatten und das solidarisch handelte mit den Schwachen. Wie der Name sagt, die Kappe zeigt und die Einstellung beweist: Rotkäppchen war links. Als nun das liebe Rotkäppchen erfuhr, dass es seiner bürgerlich-parlamentarischen Großmutter schlecht gehe, wollte es nicht säumen sie zu besuchen und ihr zu bringen, was die Gesundheit der betagten Frau wiederherstellen konnte. Kuchen und Wein, so viel ein proletarischer Haushalt davon hergibt, packte die Mutter in Rotkäppchens Korb. Aber Rotkäppchen wusste, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch etwas Schönes braucht. Darum ging es bewusst vom Weg ab, als es die hübschen Blumen auf der Wiese sah, brauchte dafür nicht den Ratschlag des durchtriebenen Wolfs, sondern nur Augen im Kopf und, zum Pflücken, Hände an den Handgelenken, proletarische Grundausstattung. Schon hatte es beisammen, was die bürgerliche Großmutter gernhatte und von ihren arbeitenden Kindern und Enkeln auch pünktlich einforderte.

Dem bösen Wolf ist Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter also gar nicht begegnet, behaupte ich (auch wenn der Grimm der Gebrüder mich von hier an verfolgt). Sie hat zwar von ihm gehört, weiß, dass er gerne Menschen frisst und da angeblich nicht wählerisch ist, alte Damen genauso mag wie Mädchen mit rotem Barett. Aber das sind Medienberichte. Man weiß nicht, was dran ist. „Warum sich um sowas einen Kopp machen?“ denkt Rotkäppchen, geht frohgemut zum Haus der Großmutter – einer stattlichen Villa mit Garten, der alles trägt, was Rotkäppchens Familie gern hätte – und klingelt. Nach der Gesichtserkennung durch die Sprechanlage und einer partiellen Deaktivierung der Alarmanlage tritt Rotkäppchen ein, geht zum Schlafzimmer der Großmutter und macht erst mal ein Kompliment: „Oma, du siehst aus wie immer.“ Dann erkundigt es sich nach dem Ergehen. Oh, ganz schlecht sei das, heißt es. Auf Lebensmittellieferungen und Blumensträuße müsse die Großmutter immer länger warten. Der Egoismus der Produzierenden nehme krass zu, andauernd streiken würden die. Neuerdings gebe es sogar Lieferkettengesetze und Pflanzenschutzauflagen, als ob Steuerlast und Bürokratie für ihresgleichen nicht schon lebensbedrohlich genug wären. Das Land „Euer Opa“ sei nicht mehr wettbewerbsfähig und sie, „euer aller Oma“, lasse sich nicht länger von selbstsüchtigen Nachfolgegenerationen auf der Nase herumtanzen. Andere Saiten würden jetzt aufgezogen, schreit die Großmutter und rasselt dazu mit einem Schlüsselbund, das Rotkäppchen noch nicht kennt.

„Hier sind Kuchen und Wein“, versucht es Rotkäppchen, „und da ein hübscher Blumenstrauß.“

„Zu spät“, schnauzt die Großmutter, wobei rechts und links in ihrem Maul stattliche Reißzähne aufblitzen. „Komm mal mit, Kleines“, sagt die angeblich Kranke, springt aus dem Bett und zieht Rotkäppchen hinter sich her durch Haus und Garten zu dem Tor eines weitläufigen Zwingers, in dem Rotkäppchen sogleich den Wolf erblickt. Er ist braun, was Rotkäppchen irritiert, sieht sonst aber aus wie im Schulbuch. Die Großmutter steckt mit der Rechten den Schlüssel ins Torschloss und reckt den Zeigefinger der Linken hoch in den Himmel. „Das habt ihr nun von eurer Frechheit. Mit diesem Wolf gemeinsam habe ich in Thüringen schon einen Ministerpräsidenten gewählt und Grunderwerbssteuern gesenkt. Den lasse ich jetzt raus und in mein Schlafzimmer. Das heißt, zu allererst lass ihn dich zu Rote Grütze pürieren und wegputzen.“

Rotkäppchen streckt ihrerseits einen Zeigefinger in die Höhe. Er zittert. Reflexartig nimmt die Großmutter ihr Enkelkind dran: „Ja, Rotkäppchen?“ Das Kind gibt alles, was es in der Schule gelernt hat, auch rhetorisch: „Großmutter, wenn du das machst, frisst der braune Wolf uns beide, das hat er nämlich schon ganz oft gesagt.“

„Pech, Grünschnabel, dass du es geglaubt hast“, sagt die Großmutter. „Der Wolf da frisst keine Inhaberin einer Bankkarte, deren PIN er nicht kennt. Uns mag er nicht, aber unser Geld. Und wenn wir ihm zeigen, wie er drankommt, mag es uns auch irgendwie.“ Damit öffnet die Großmutter das Zwingertor. Rotkäppchen fragt sich, ob der Wolf es lange neben der Großmutter in deren Bett aushalten wird. Es ist Rotkäppchens letzter Gedanke.

Moral aus der Historie: Wenn die Mitte bereitsteht dafür, die extreme Rechte an die Macht zu bringen, ist die Mitte kein Schutz, sondern die akute Hauptgefahr.

Moral-PS: Von links mit der Mitte koalieren kann helfen – so lange kommt Rechts nicht dran.

Moral-PPS: Die angeblich rechten 16- bis 24jährigen Deutschen haben bei der Europawahl genauso viel AFD gewählt wie der Durchschnitt – aber nur gut halb so viel CDU!

Paragraphenblüte

Die Wahrheitsdrohne überfliegt Deutschland und sendet historische Bilder: blühende Landschaften, soweit das Kameraauge reicht. Osten und Westen bedeckt von sattem Grün. Doch was wächst da, was blüht? Kohl scheint es nicht zu sein. Die Drohne zoomt sich ran und wechselt in den Tiefflug, um Rauchschwaden zu durchdringen, die von Deutschland aufsteigen. Letzter Zweifel verfliegt: Es ist Cannabis.

Flächendeckend stehen die übermenschlich großen Pflanzen in Dreiergrüppchen zusammen und verströmen ihr einst gefürchtetes Aroma. In jeder Pflanzengruppe steht ein über achtzehnjähriger Mensch mit dauerndem Aufenthalt in Deutschland und gießt seine drei legalen Lieblinge. In Vorgärten und Hinterhöfen, auf Balkonen und Dächern, überall da grünt es legal, wo Erwachsene wohnen und ihre Pflanzen gegen die Begehrlichkeit von Jugendlichen gesichert haben. Die dürfen nämlich nichts, wie üblich. Betritt ein erwachsener Mensch seine Wohnung, dann liegen da noch mal fünfundzwanzig Gramm Marihuana für ihn bereit – eine Menge, mit der sich für einen Monat der Zustand des Cleanseins weitgehend vermeiden lässt.

Doch den blühenden Landschaften naht ein Problem. Erntezeit bei Cannabis ist die Blütezeit. Geerntet wird die mit Harz gefüllte Blüte. Was macht nun der gesetzestreue Besitzer dreier Hanfpflanzen, die jede ihre zweihundert Gramm Marihuana abwirft, wenn die Ernte eingefahren ist? Teilen mit anderen darf er nicht. Verkaufen schon gar nicht. Besitzen auch nicht. Vernichten dürfte er den Überschuss, aber bleiben wir realistisch. Deutschland ist in dem besonderen Jahr ein Volk von Bauern geworden. Im August, zur Erntezeit, lodern nicht überall im Land die Hanffeuer, no way. Was der Bauer hat, das raucht er. Und zwar so schnell wie möglich, damit nicht allzu viele illegale Weckgläser voll des Räucherwerks in der Wohnung herumstehen. Sommerurlaub mal anders: Das Auto bleibt da, der Körper auch. Der Geist ist dann mal weg für sechs bis acht Wochen.

Nehmen wir, ebenso realistischerweise, an, die Polizei hackt sich ins Bordsystem der Wahrheitsdrohne und guckt „Deutschland von oben“, die Augustfolge. Was sehen die schreckensgeweiteten Beamtenaugen? Überall Pflanzengrüppchen wild im Gelände, in Parks, auf Brachland und, besonders auffällig, auf Brücken! Das geht doch nicht! denkt der sagen wir mal bayerische Einsatzleiter, rückt aus zur nächsten Brücke und stellt die Personen, die er antrifft, zur Rede. Doch doch, das gehe, antwortet man ihm frech. Die Brücke sei Wohnsitz im Sinne des Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis. Glaubt der Beamte nicht? Dann lernt er jetzt die Gesetzesdefinition. „Wohnsitz:  der Ort, an dem eine Person eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass sie die Wohnung beibehalten und benutzen wird“. Die genannten „Umstände“ würden sich ja wohl nicht ändern, fügt der Obdachlose hinzu, man nenne sie Kapitalismus. Und wünscht noch einen schönen Einsatztag, wozu er den Ordnungshüter mit der Abluft eines halben Gramms Marihuana einnebelt.

Der Polizeiobermeister ist sauer, er will jetzt irgendwas verbieten oder vereiteln. Das ist aber nicht so einfach. Dem ersten Kiffer, den er in der Stadt trifft, zeigt er einen Kinderspielplatz am Ende der Straße: „Keine zweihundert Meter Abstand! Das wird teuer.“ „Zwoahundertzwoa“, antwortet der Breite und raucht gemütlich weiter. Was tun? Der Polizist fordert im Zuge der Amtshilfe einen Vermessungsingenieur an. Als der nach drei Stunden eintrifft, deutet der Polizist auf den Spielplatz und als der Ingenieur gemessen hat, steht der Konsument drei Meter weiter. „Zweihundertundeinen Meter“ betrage der Abstand, so das amtliche Messergebnis. Der Polizist ruft seinen siebzehnjährigen Sohn an und nimmt ihn mit auf Streife, wodurch jeder Ertappte automatisch „in unmittelbarer Gegenwart von Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“, ertappt worden wäre. Doch schon beim ersten schnappt der Sohn sich dessen Joint, nimmt einen Zug und atmet aus mit dem Satz: „Happy Birthday mia selba! Papa, du hast meinen Geburtstag vergessen.“ Dem verzweifelnden Kulturschützer kommt eine letzte Idee. Er fährt zum nächsten Wald, stellt sich hinter einen Baum und springt hervor, als die ersten Ex-Kriminalschwaden an ihm vorbeiziehen. „Legalisierung“, lallen die Extäter, „schon gehört davon?“ Und haben mit der Antwort nicht gerechnet: Weil Autofahren in einem Wald verboten sei, handele es sich bei einem solchen logischerweise um eine Fußgängerzone. Und in einer solchen sei zwischen sieben und zwanzig Uhr verboten, was sie somit illegal gerade getan hätten. In dem Moment läutet es acht Mal vom nahegelegenen Kirchlein. Der Beamte bricht zusammen. Man wünscht ihm allgemein noch einen entspannten Abend.

Vom Kernstück des neuen Gesetzes haben wir damit noch gar nicht gesprochen, den siebeneinhalb Seiten und neun Paragraphen über die „Anbauvereinigungen“. Zu dieser höchsten Blüte am Gesetzesstamm nur so viel: Wer es jemals schaffen sollte, sämtliche Vorgaben zur Gründung einer solchen Vereinigung zu erfüllen, die oder der hätte etwas geschaffen, das mit seiner Komplexität und Undurchschaubarkeit in direkte Konkurrenz zum deutschen Staat treten würde.

Endlich in einer Beziehung: Schweden

Heute kreist die Wahrheitsdrohne über Schweden, dem jüngsten NATO-Mitgliedsland. Alles ist anders, zweihundertzehn Jahre Neutralität sind beendet, demnächst vielleicht zweihundertzehn Jahre Frieden.

Auf jeden Fall die Pressefreiheit. Ein neues Gesetz stellt alles unter Strafe, was als Unterstützung des Terrorismus gelten kann. Bei der Definition hilft der neue Partner Türkei. Im Gegenzug erhält er schwedische Waffen nebst Unterstützung bei der „Terrorismusbekämpfung“. Dafür gibts die NATO-Mitgliedschaft für Schweden, wofür die Türkei wiederum US-Kampfflugzeuge bekommt, demnächst als Dauergäste im nordsyrischen Luftraum erwartet, den die USA offiziell überwachen. Am Boden zieht Schweden dort die Unterstützung zurück, die es zivilen Kräften erst vor knapp zwei Jahren zugesichert hatte.

Schwedisch-türkischer Honeymoon, da ist ein Blick auf den neuen Partner erlaubt. Seit drei Monaten fliegt er eine Offensive nach der anderen auf das Gebiet der Demokratischen Kräfte Syriens, kurdisch Rojava. Im November zerstörten türkische Drohnen das Gasverteilungszentrum Siwêdiyê, das einer Region mit einer Million Einwohnern Strom lieferte. Im Januar brachte ein weiterer Drohnenangriff die Stromversorgung in neun Städten und zweitausendzweihundertzweiundreißig Dörfern weitgehend zum Erliegen. „Mitten im kalten Winter“, heißt es im Kirchenlied. Schulen, Krankenhäuser, die Treibstoff- und Grundversorgung der Bevölkerung wurden angegriffen, etwa eine Mühle, die täglich eintausend Tonnen Mehl produziert hatte. Anfang Februar beschossen türkische Drohnen Zivilschutzeinheiten in Qamişlo, eben damit befasst, neu entstehende IS-Strukturen in dem mit fünfundfünfzigtausend Insassen größten Internierungslager für ehemalige IS-Kämpfer und ihre Familien auszuheben. Tage später wurde ein Rehabilitationszentrum für Kriegsversehrte in Nord- und Ostsyrien bombardiert. Dort starben Menschen, die im Kampf gegen den IS verwundet worden waren und sich auf einen Wechsel in zivile Berufe vorbereiteten. Die ständigen Luftangriffe, speziell die auf Bewacher von IS-Gefangenen, können dazu führen, dass Letztere sich massenhaft befreien, ist vor Ort zu hören. Es wäre Absicht. Die Türkei ist de facto verbündet mit dem Satanischen Staat, wie die Kopfabschneider zutreffender heißen sollten. Sie wird dabei gedeckt von einem Bündnis, das Erdogans Definitionen kritiklos übernimmt. NATO-Generalsekretär Stoltenberg  2017: „Bedenken Sie bitte, dass kein anderes NATO-Land so stark von Terroristen angegriffen (sic) wurde wie die Türkei.“

Glückwunsch, Schweden, dein Neuer ist ja richtig sympathisch! Und passt so gut zu dir. Wie, du bist liberal und er nicht? Mal langsam. Er gründet bald eine „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ (DAVA) bei dir wie in Deutschland. Die räumt mit der „Gender-Ideologie“ auf und ist offen für alle Muslime, freu dich drauf. Deine Schwedendemokraten sind Nationalisten, er auch. Deine Köttbullar heißen Köfte bei ihm und schmecken sogar. Dein Stahl findet Verwendung in seinem Wahrzeichen, dem Dönerspieß. Er trinkt gern Schnaps, aber heimlich, genau wie du mit deinem verklemmten Alkoholgesetz. Glaubst du nicht? Guck dir den Präsidenten an, die Augenringe, der Teint, der glasige Blick sagen wohl genug. Pornographie verkaufst du da besser als zu Hause, bei all den Vorhängen, Umhängen, Vorhängeschlössern an den Frauen der Notbehelf für die Machomännchen. Was in den tausend Zimmern des Präsidentenpalasts abgeht, willst du gar nicht wissen. Der Präsident weiß es selbst nicht mehr. Und komm, religiös warst du auch immer, sektenreich und verschwurbelt, wenn man deinen Dichtern von August Strindberg bis Per Olov Enquist glauben darf. Lies Orhan Pamuk und du siehst in hundert Spiegeln dein religiös-sentimentales, vor Selbstliebe aufgeplatztes Frömmlergesicht. Nein nein, mit Islam oder Christentum hat das nichts zu tun. Das ist einfach nur unangenehm.

Und wenn du noch immer zweifelst – er hat Drohnen! Lass es dir von einer Drohne sagen: Dein neuer Freund ist der größte Drohnenproduzent und -verkäufer weltweit. Seit 2021 haben fünfzehn Länder Bayraktar-TB2-Drohnen bei ihm gekauft. Ein weiteres Dutzend Länder hat bestellt und wartet. Die meisten Kunden setzen die Waffe innerhalb der eigenen Grenzen ein, gegen ihre Bevölkerung. Greif zu, vielleicht kriegst auch du mal Ärger mit den Schwed:innen, zum Beispiel wenn sie merken, was deine Aufrüstung kostet. Du fragst nach einem Beispiel für den intranationalen Einsatz von Bayraktar-Drohnen? Ich gebe dir eins: die Ukraine. Am 26. Oktober 2021, vier Monate vor dem gern „unprovoziert“ genannten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands, setzte die Ukraine erstmals eine Bayraktar TB2 gegen Stellungen im abtrünnigen Donbass ein. Honi soit qui mal y pense? Ich denke: Dein neuer NATO-Freund weiß genau, was er tut. Vom wenig später ausgebrochenen Ukrainekrieg profitiert er dreifach: als „Vermittler“, als Waffenhändler, vor allem aber mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Nordsyrien, für den die (ab)gelenkte Öffentlichkeit gerade keine Zeit und kein Interesse hat.

Friede den nordsyrischen Hütten! Friede auch dem Präsidentenpalast – wenn er nur zu der türkisch-kurdischen Aussöhnungspolitik zurückkehren wollte, die bis Juli 2015 erfolgreich von Erdogan getestet wurde.

Im Eck ich steh, ich tu ihm weh – wer bin ich?

Gleich wird es hier so persönlich, dass ich keine Zeugen gebrauchen kann. Ich muss mit dem Gegenstand meiner Auseinandersetzung allein sein, weshalb ich ihn direkt ansprechen werde. Achtung, ich spreche: Wie – frage ich dich – soll es zwischen uns weitergehen? Was für Qualen gedenkst du mir weiter zu bereiten, die ich nicht entweder schon kennen oder aber mit endgültiger Trennung von dir beantworten würde?

Ach guck mal, die Wahrheitsdrohne schwirrt ab. Ernsthafte Beziehungsarbeit ist nicht so ihr Ding, scheints.

Wo war ich stehengeblieben? Richtig: bei meinen Qualen. Bei meinen Schmerzen. Stehend vor dir als der Ursache denke ich Sachen wie: Bin das wirklich noch ich? Ich kann nämlich zwischen dir und mir nicht mehr unterscheiden, so nah sind wir uns gekommen. Du bist ein Teil von mir geworden. Du wütest in meinem Innersten. Der Schmerz, den du mir bereitest, füllt mich aus wie das Bier das Glas. Man sagt „Glas“ und meint in Wirklichkeit Bier, das sich in einem Glas befindet. Ich betrachte mich im Spiegel und sehe in Wirklichkeit dich. Was du mir angetan hast, zeichnet sich ab in meinem Gesicht, vollständig. Oder nicht mal: Ich bräuchte zwei Gesichter – wie meine wohlhabenderen Freunde zwei Bildschirme auf ihrem Schreibtisch stehen haben – um alles anzeigen zu können, was du mir angetan hast. Die ganze Breite der Palette, mit der du den Schmerz in meine zwei Gesichter gemalt hättest.

Zwei Wochen vor Weihnachten fing es an. Ich dachte sofort über Trennung nach, wollte aber das Fest noch ein Mal mit dir erleben. Ich brauchte dich für dieses Fest, für seine dreitägigen Freuden. Und irgendwie lief es sogar. Ich dachte schon, du wolltest dich vertragen mit mir.

Aber nein. Zwei Tage nach Weihnachten ging es wieder los. Ich schluckte Tabletten und Alkohol durcheinander, um zu verarbeiten, was du mir neuerlich antatest. Und ich schluckte die Einsicht, ärztliche Hilfe zu benötigen. Im weiten Rund unserer gemeinsamen Heimat telefonierte ich nach Beistand. Alle waren im Urlaub und verwiesen auf Vertretungen in Bundesländern, die ich noch nie bereist habe. No way. Wir würden zusammen ins neue Jahr gehen, soviel war klar. Unberaten und ohne ärztliche Aufsicht würden wir über die Zukunft unserer Beziehung entscheiden, glaubte ich.

Dann überschlugen sich die Verwicklungen. Den Jahresanfang hindurch telefonierte ich ganztägig mit Fachärzten. Ihr Urlaub war verlängert worden. Als der Telefonseelsorge die Ratschläge ausgingen, suchte ich einen Notdienst auf. Der jugendliche Arzt riet zu einer analytisch bohrenden Paartherapie. Ich flüchtete mich in einen zwei Wochen späteren Termin bei einem Niedergelassenen. Der war noch jünger und empfahl die Trennung. Liegend auf seiner Couch traf mich der Schlag. Ich argumentierte mit der besonderen, unverzichtbaren Stellung, die du in meinem Innern einnehmest. Verlöre ich dich, werde dort alles zusammenbrechen, weissagte ich und entkam dem Weißkittel mit letzter Entschlusskraft. „Ich kann nicht ohne ihn leben!“, rief ich durch den Spalt der zufallenden Praxistür.

Jetzt ist es raus. Es geht nicht um meine Frau. Du, Schmerzgebärender, stehst mir näher als sie, begleitest mich auch schon Jahrzehnte länger. Schwul bin ich allerdings auch nicht geworden. Es ist alles komplizierter. Du seiest in Wahrheit schon abgestorben, hatte der Niedergelassene gesagt, werdest mir so jedoch noch gründlicher wehtun als zu Lebzeiten.

Ich weiß nicht, ob es stimmt. Ich spüre nur noch einen unbestimmten, fast nostalgischen Schmerz, wenn ich an dich denke. Auch frage ich mich, ob ein so junger Arzt die Probleme einer so langen Beziehung überhaupt versteht. Er geht doch von frisch Verliebten aus, die schmerzfrei zusammenarbeiten – weil es das ist, was er kennt. Solche Ansprüche stelle ich aber nicht. Ich stehe zu dir mit all deinen Mängeln und Beschädigungen. Selbst dein Tod nimmt dir nichts von deiner Bedeutung für mich, wenn du nur bitte, bitte weiter mein Essen kleinmachst. Ich putze und pflege dich liebevoller als in deinen strahlenden Jugendjahren – und du zahlst mit Verweigerung und heimsuchendem Schmerz zurück?? Die Wut, die ich so langsam auf dich habe, wird mir helfen müssen mich von dir zu trennen.

Wenn ich Francoise Rosay ein dentistisches Bonmot in ihrem hübschen Mund umdrehen darf: Zähne sind wie Frauen. Es dauert lange, bis man sie bekommt. Und wenn man sie hat, tun sie einem weh. Und wenn sie nicht mehr da sind, hinterlassen sie eine Lücke. Eigener Zusatz: Die größte Lücke hinterlassen die, die immer (still) in der Ecke standen.

Schuster, bleib bei unseren Flügeln

Es begab sich aber zur Weihnachtszeit, dass ich gen Frankfurt-Sachsenhausen radelte, um ein Geschenk zu kaufen. Kein Weihnachtsgeschenk, sondern ein Bild für eine der vielen Wände der Wohnung, die sich ein Freund gerade gekauft hat. Auf der Fechenheimer Fahrradbrücke erreichte mich der Anruf einer jungen Autorenkollegin, die ich in Sachsenhausen treffen wollte. Sie sei gerade in Fechenheim. Also verabredeten wir uns in einer kleinen Cafè-Galerie dortselbst.

Die Inhaberin hatte mich vor vielen Jahren zu einer Lesung eingeladen, seitdem nicht mehr gesehen. Nun wollte sie wissen, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen sei. Ich weiß nicht, warum ich nach drei Sätzen bei einem Thema war, das die Dreiviertelstunde, die wir auf meine Kollegin warteten, vollständig ausfüllte. Es war das Thema des schreibenden Verlegers. Ja, berichtete ich wahrheitsgemäß, der Verleger, bei dem ich vor Jahren rauskam, schreibt jetzt. Also selber. Ja genau, Bücher. Ja wie ich das denn fände. Ich weiß nicht, ob die Galeristin überhaupt dazu kam, es mich zu fragen, so schnell antwortet ich: Na ja nee!! Also nicht so. Das heißt … ja ja, doch doch! … Das Schlimmste ist nämlich: Er schreibt gut. Eigentlich in Ordnung also, oder was heißt in Ordnung, unbedingt notwendig, dass seine Sachen erscheinen, dass sie dann auch gekauft, gelesen, geliebt werden. Ja doch.

Und ich? Und wir, seine Autorinnen und Autoren? Was wird aus uns?

Immerhin: Im Unterschied zu manch anderem verlegt der Verleger seine Werke nicht selbst, sondern bietet sie Kolleg:innen an. Und die drucken sie aus dem einfachen Grund, dass sie gut sind. (Habe ich „leider“ gesagt?) Insofern trennt er die zwei Herzen in seiner Brust sauber. Dann kommt allerdings Jesus und guckt genauer hin: „Wo dein Schatz ist, da wird dein Herz sein.“ Welches der zwei Herzen schlägt? Ich weiß nur das: Mein letztes Buch bei dem Verleger hatte genau eine Lesung, die der Verlag für mich arrangiert hat. Im selben Jahr hatte der Verleger mit seiner eigenen Neuerscheinung zwanzig Lesungen. Nein, die hat nicht sein Verlag für ihn arrangiert. Und ja, ich hatte zehn Lesungen mehr als er. Aber bei der Hälfte war es eine lange, lästige Stange Arbeit für mich, sie zu verabreden. Das nächste Buch habe ich dann in einem anderen Verlag rausgebracht.

„Weil da zwei Kolleginnen hartnäckig für dich geworben haben“, plärrt die Wahrheitsdrohne dazwischen. Sie hat Recht. Das ist die Hauptnachricht dieser Glosse. Sowas tun Autorinnen auch (gendern will ich hier nicht, Goethe hat Recht: Frauen sind die besseren Menschen): selbstlos helfen. Und das, obwohl, wie ich bald erfuhr, die Guten und ich plus zweihundert Weitere das bekannte Problem haben: Auch dieser Verleger schreibt. Schon viel länger als ich veröffentlicht er Literatur. Und muss ich es noch hinschreiben? Es war ja so klar. Es konnte ja nicht anders kommen: Seine Sachen sind gut. An der Stelle ungefähr kam die junge Kollegin zur Tür reingestolpert, fiel auf einen Stuhl, klappte vor mir ihren Laptop auf und sagte, während sie in aller Ruhe aus dem Mantel kroch: „Hier, lies das mal. Hab ich heute geschrieben. Aber lies es genau. Ich glaub, ich hab noch nie was so Gutes wie das geschrieben.“

Und wieder stimmte es. Nachdem ich drei Seiten gelesen hatte, hatte ich allerdings eine Vision und tat nur noch so, als ob ich weiterläse. Vor meinem inneren Auge stand ein nicht endendes Schuhregal, in dem lauter geflügelte Schuhe standen. Ein selbstloser Mensch hatte diese Schuhe für uns, seine Autor:innen, angefertigt, damit unsere Literatur sich in alle Winde verbreitete. Ich war so gerührt, dass ich kaum aufwachte von der Frage, die die Kollegin mir schon dreimal gestellt hatte: „Sag mal, könntest du bei deinem Verleger anfragen, ob er das Buch vielleicht machen will?“ „Ich weiß nicht“, antwortete ich, „ob das der richtige Platz wäre. Da sind schon so viele Autoren … Und dein Manuskript hat das Potenzial für einen großen Publikumsverlag, wirklich. Also ich an deiner Stelle …“ „Schon gut, war ja nur ne Frage“, lenkte die Jungautorin ein und ich hatte ein schlechtes Gewissen. „Aber du hattest auch ein Bisschen Recht“, schnattert die Wahrheitsdrohne plötzlich. Dass die mal was zu meinen Gunsten sagt!

Ich tat, was schlechte Menschen tun, wenn sie nicht weiterwissen. Ich lenkte ab, mit einem Hinweis auf die Bilder, die an den Wänden der Galerie hingen. Nach ein paar Höflichkeiten fiel mir ein, dass ich auf der Suche nach einem Bild war. Aber bitte keins von denen, wusste ich. Da bemerkte ich eine kleine Arbeit, die in der hintersten Ecke des Raums auf einem Bücherbord lehnte und, wie ich bei Annäherung sah, schon eine Weile vor sich hin staubte. Sie gefiel mir auf Anhieb. „Ach das“, sagte die Galeristin. „Das ist von mir.“

Ich handelte den Preis geringfügig runter und kaufte das Werk einer Galeristin, deren Ausstellung von in Öl gemalten Porträts mich und die Galeristin, während ich mich verabschiedete, aus einem Dutzend Augenpaaren hasserfüllt anstarrte.

gedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 21.12.2023

Wenn einer Reisen tut

Hochmut kommt vor dem Fall. „Du bist doch gar nicht gefallen“, schnurrt die Wahrheitsdrohne. Kinder und Drohnen sind üble Rechthaber. Was ich sagen will: Ich war immer so stolz darauf, sämtliche Fahrradstürze selbst gebaut zu haben, ohne die Mithilfe all jener Kraftfahrer (alle männlich, gendern wäre hier lügen), die schon versucht haben mich mit ihren Kraftfahrzeugen zu töten.

Jetzt hats einer geschafft. Also mich angefahren, ich lebe ja noch (Tote schreiben keine Kolumnen). Jetzt ist es aus mit dem Stolz und der dazugehörigen Sicherheit, in der ich mich gewogen habe. Autos können auch anders. Nicht nur fahren, als ob es keine Radfahrer gäbe, und zynisch recht behalten damit, weil der Radfahrer am Ende doch nicht tot ist, obwohl das Auto alles getan hat dafür. Sondern genauso fahren und am Ende auch treffen.

Ja, es war dunkel. Ja ich hatte einen dunklen Mantel an. Der Zebrastreifen, an dem es geschah, war aber in grelles Licht getaucht. Und ich befand mich, ehe es geschah, mit meinem Fahrrad längst auf dem Zebrastreifen. Also nicht das Spiel ‚wer zuerst drauf ist‘, das ich auch schon gespielt habe, zugegeben. Nein, ich bin drauf, beinahe schon drüber und merke plötzlich: Das interessiert den Autofahrer nicht, der von links kommt. Der vermindert seine Geschwindigkeit nicht. Okay, denke ich, jetzt hast du noch genau eine Chance: scharf nach rechts, zurück an den Straßenrand. Vielleicht schafft er es noch vorbei an dir. Aber nix. Der Fahrer will nämlich rechts abbiegen und nimmt mich auch am Straßenrand auf die Hörner. Vulgo: klemmt meinen linken Fuß mitsamt Pedal zwischen Rad und Radkasten ein, schleift mich ein Stück mit und bleibt dann stehen.

„Wenn du Leute töten willst, kauf dir ein Gewehr!“, schreie ich. Was man manchmal redet. Da sind schon sinnfreie Sachen dabei. Umgefallen bin ich nicht, der Punkt geht an die Wahrheitsdrohne. Ging nicht, weil der Fuß eingeklemmt war. Mühsam zoppele ich das Pedal aus dem Radkasten, zieh den Fuß hinterher und will vorne das Kennzeichen ablesen. So einer, habe ich mir immer geschworen, kommt mir nicht unter versuchtem Totschlag davon. Das guckt sich jetzt mal die Polizei an, die Sorte ist anders nicht resozialisierbar. Aber scheiße – es ist der Dieter (Name von der Redaktion geändert), was da aus dem Auto krabbelt! „Sorry, hab disch net gesehe,“ kräht Dieter. „Sag mal, wir kennen uns doch“, sage ich. Dieter guckt eine Weile, ruft dann: „Mensch, Eddy, des gibbs doch gannet. Tut mer escht leid. Iss was passiert, samma do?“

Na ja, wie mans nimmt. Den Dieter kenne ich von zahlreichen Hoffesten in meiner Straße. Wir haben schon manche Flasche Wein zusammen geleert, manchen Vogel sein erstes Lied singen hören morgens. Wir und noch zwei, drei andere. Den Dieter zeige ich auf keinen Fall an. Dem rede ich ins Gewissen, das ja. „Du musst da mal drüber nachdenken, Dieter. Das hätte ganz anders ausgehen können eben.“ Dieter und Nachdenken sind allerdings nicht leicht in eine engere Verbindung zu bringen. „Ja scheiße. Aber ich hab disch escht net gesehe!“, ist ihm erneut wichtig zu betonen. Was genau will er mir mitteilen? Dass er andere Leute, wenn er sie sieht, absichtlich umfährt und dass ich so unbeliebt wie die bei ihm gar nicht bin? Würde mich das, falls es die Botschaft ist, in dem Moment trösten?

„Isch zahl des, gakaa Fraach“, sagt Dieter, nachdem ich testweise gemerkt habe, dass das Fahrrad nicht mehr fährt. Der Fußknöchel schmerzt. Zur Arbeit gehe ich heute nicht mehr. Zum Arzt dann auch nicht. Dem Hausarzt habe ich dummerweise erzählt, dass es ein Wegeunfall war. Damit darf er mich nicht mehr untersuchen. Den Unfallarzt müsste ich erst mal selber zahlen und die Berufsgenossenschaft lasse ich aus dem Spiel. Einmal wegen Dieter. Dann auch wegen des einzigen Arbeitsunfalls, den ich jemals gemeldet habe. Auf einer Dienstreise war der. Die Sachbearbeiterin entnahm den eineinhalb Zeilen des Unfallarztes, dass meine körperliche Fitness für Belastungen wie Reisen nicht mehr ausgereicht habe, weshalb es sich um keinen Arbeitsunfall gehandelt habe, da ich die Reise unberechtigterweise angetreten hätte. Auf der Unfallarztrechnung blieb ich sitzen. Bei dem Versuch, die Entscheidung der Sachbearbeiterin anzufechten, erfuhr ich, dass die Dame krankgeschrieben sei. Sechs Monate blieb das so. Ich gab auf.

Gut, der Dieter hätte diesmal gezahlt. Ich hatte einfach keinen Bock auf die Berufsgenossenschaft, an der ich nicht vorbeigekommen wäre, und keinen auf den Ärger, den der Dieter dann bekommen hätte. Er hat die Fahrradwerkstatt bezahlt. Das reicht: Wir haben ihm schön was aufgeschrieben.