Bluz´n Pivo – full concert with jam session

The flautist is also a very good saxophonist.
Unfortunately, I don’t know the names of the various performers, except for Nikola Markovic, the excellent bassist.

Blues Rock and little bit Jazz/Fusion
Recorded with a Tascam stereo recorder.
Thanks to @ewart reder for the recording.
You did a great job 🙂
Mastering: © Bam Dorner Production

 

Rheinnymphen

Ein Tag am Rhein ist wie ein Monat an einem anderen Fluss

das Fahrrad trägt dich das Tal hinunter und auf die Berge

der Bus färhrt bis auf den Venusberg

und ein anderer Bus fährt wieder runter

viele Züge fahren ohne funktionierendes WC

aber nicht alle Fahrgästen kommen ganz hinten an.

Am besten du sitzt im Café Panor in Bad Godesberg

und lässt dir türkische Rhythmen auf den Tisch stellen.

Donau Save Bootsfahrt

Fahrt mit dem Boot auf der Donau/Save in/bei Belgrad August 2024
Fotos und Video von Ewart Reder und Bam Dorner
Musik Bam Dorner Productions
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Boat trip on the Danube/Save in/near Belgrade August 2024
Photos and video by Ewart Reder and Bam Dorner
Music by Bam Dorner Productions

Der Frustrator

Die Belgrader Straße, in der ich wohne, hat viele dominante Bewohner. Man fragt sich, wen all die Alphawesen überhaupt dominieren wollen. Es müssten Wesen ohne eigene Dominanz sein und die sind in der Straße selten. Autofahrer preschen dieselbe runter, als wären Fußgänger Straßendreck. Fußgänger kratzen sich in der Straßenmitte so konzentriert am Hodensack, dass sie dafür stehenbleiben. Autos haben keine Hoden, müssen nicht ernst genommen werden. Wollte die Straße einen Diktator wählen, gäbe es nur Kandidaten und keine Wähler.

Und doch ist einer, welcher dieses Unbedingt auffallen unendlich sanft … nein, falsch abgebogen, das war Rilke. Einer ist da, muss es heißen, welcher dieses Gerangel mit einer Mischung aus Hartnäckigkeit und unerschütterlichem Glauben an sich selbst seinerseits dominiert. Dieser eine verdient es, als Herrscher der Straße angesprochen zu werden, und ist überraschenderweise ein Hund.

Welche Definition von Herrschaft willst du? Immer das letzte Wort behalten. Sich in alles und jedes Verhalten anderer einmischen. Keinen Anspruch neben dem eigenen anerkennen. Der Hund unseres Nachbarn erfüllt sämtliche Kriterien für Herrschaft. Ausgeübt wird diese von ihm durch Bellen. Gerne bellt er anlasslos. Zum Beispiel morgens früh um halb fünf, wenn in dieser Straße kein Mensch, kein Hund und keine Maus unterwegs ist, bellt er. Wie tut er es? Ich würde sagen: nachdrücklich. Jedes einzelne Wau ist ihm wichtig, weshalb er zwischen den Einzelwauen kurze Kunstpausen macht. Wie Eltern, die der Nachkommenschaft eine Mitteilung einhämmern wollen: Jeder Hammerschlag muss sitzen, jedes Wort, jedes Wau so präzise, dass man denkt: Dies Wau war  wirklich unvergleichlich eindrucksvoll. Was nie stimmt, weil das nächste immer noch bedeutender ausfällt.

Denkt zumindest der Hund und kriegt nicht genug von seiner Bedeutung. Bis ihm plötzlich ein Wau verrutscht. Kriegen Hunde Stimmbruch? So klingt jedenfalls das meinetwegen achtunddreißigste Wau und der Hund merkt: Mist, der eine Patzer kratzt an der Würde meiner Rede mehr als die siebendreißig Treffer vorher zu ihr beigetragen haben. Was mach ich bloß? Die Antwort lautet: Weiter. Nur die Länge des Vortrags bietet die Aussicht, den Patzer beim Publikum in Vergessenheit zu bringen, in Kombination damit, dass fortan alles klappt. Was es nie tut – da capo al infinito. Der Spaß kann dauern.

Wer übrigens fragt, woher ich wissen will, was der Hund denkt: Für sowas hat man seine Wahrheitsdrohne.

Der Hund wiederum hat für sein Bellen seine Gründe. Achtzig Prozent der Performance sind nicht anlasslos – wenn auch ansatzlos. Ein Fehlverhalten, das sich in Gegenwart des Hundes vorzukommen erlaubt, braucht eine Antwort. Der Hund bellt noch ein Achtel lustvoller, als wenn er einfach so bellen muss, weil man ihm den Anlass verweigert. Beispiel: Ein fremder Hund, der die Straße daherläuft und unter dem Balkon des Nachbarhundes die Frechheit des Bellens hat. Das macht der nicht noch mal! Beziehungsweise das macht der noch ganz viele Male hintereinander, weil er jedes Mal, dass der Nachbarhund sein „Schluss jetzt!“ bellt, sein „Nee, noch nicht!“ dahintersetzen muss. Und trotzdem ist irgendwann Schluss. Denn der Fremde muss weiter und der Nachbarhund nicht, der wohnt hier. Der kann länger. Der hat immer das letzte Wau. Und das wars doch, was er von Anfang an sagen wollte Herrgott. Hätts der Fremdköter mal nach dem ersten Wauwechsel eingesehen. Oder die Katze steht nachts vor unserem Haus und will rein, warum auch immer. Sie macht ein weinerliches Geschrei, das hat sie von den Babys und Kleinkindern in der Straße gelernt. Es wirkt. Ich will sie sofort reinlassen, bin aber zu müde aufzustehen und warte erst mal, was der Hund sagt. Er bellt. Mitten in der Nacht hat keine Katze Lärm zu machen. Das lernt sie einmal. Zweimal. Dreimal. Die Katze gibt auf. Ehrlich, so dringend kanns doch dann nicht gewesen sein. Bleibt sie eben draußen. Brauchen wir nicht alle diese Momente, wo unseren Ansprüchen mal Grenzen gesetzt werden? Ich mag in diesem Moment den Nachbarhund. Genüsslich drehe ich mich im Bett um und vergesse die Schreie der eingesperrten Anti-Lithium-Protestler, ääh der Katze, als hätte es sie nie gegeben. Das Leben kann so einfach sein.

Als mich gegen Morgen ein Hustenreiz packt, drücke ich meinen Kopf ins Kissen. So ein Husten, frei rausgelassen, kann als Geräusch verwechselt werden. Ich will keinen Ärger. Ich muss Dominanz nicht herausfordern. Ich bin der Nachbar. Ich akzeptiere meine Grenzen.

Der Name des hiesigen Staatspräsidenten ist übrigens dem Geräusch, das der Nachbarhund macht, nicht unähnlich. Er kommt kraftvoll aus den Tiefen der Manneskehle. Und bricht dann ab wie die Stimme eines Jungen im Stimmbruch. Oder wie ein Klaps, den die Ehefrau dem Mann auf das dauerredende Mundwerk gibt. Zwischen den Fingern witscht noch etwas Luft durch. Dann ist Ruhe im Hause Vučić.

Was zusammenhält

Was ist Kultur? Die von Herder und Hegel bis Derrida und Eribon oft gestellte, ebenso oft verkomplizierte Frage beantwortet sich einfach: Kultur ist, was Sommerpause macht – minus Politik. Die Wahrheitsdrohne weiß das, ist pünktlich weggeflogen. Was bleibt mir als ihr nachzureisen? Ins 2024 zum dritten Mal in Folge und überhaupt mit Abstand am häufigsten als „lebenswerteste Stadt der Welt“ vom britischen Economist ausgezeichnete Wien geht es. Ich will wissen: Wer oder was macht Wien so lebenswert?

Am Abend meines Ankunftstags besuche ich die nächstgelegene Grünfläche: den Rathauspark. Operngesang erfüllt ihn. Wie das? frage ich einen Mann, neben dem auf der Parkbank zwei Rucksäcke stehen – ein Durchreisender. Ich frage erst, als er seinen von der Hochkulturkonkurrenz ungerührten Mundharmonikavortrag erstmals unterbricht. Open-Air-Kino sei das, nicht live. Das muss ich mir anschauen. Hinter der nächsten Baumgruppe sehe ich die Leinwand, davor Hunderte Kinder, Eltern, Hunde. Einträchtig und kostenlos genießt man, was sich am Originalschauplatz keiner leisten könnte. Die Stadt bezahlt, Abend für Abend. Was ich erst am nächsten Morgen erfahren werde: Gleichzeitig läuft am Karlsplatz, fünfzehn Fußminuten entfernt, das nächste Umsonst-und-Draußen-Spektakel: Wiens Popfest. Vier Seiten im Falter, der ‚Zeitung Sprizz‘, umfasst das Line-Up, vier Tage und Nächte Halligalli, bezahlt hauptsächlich von der Stadt. Wäre ich einen Tag früher angereist, hätte ich Nino aus Wien gehört – ein Traum. Die Wirklichkeit: Am nächsten Tag gehe ich wieder in den Rathauspark mit dem Plan, hernach das Popfest heimzusuchen. Es kommt anders. Von der Leinwand und der stadiontauglichen PA dröhnt ein volles Coldplay-Livekonzert und danach geht die Party an den umliegenden Bier- und Würstlständen erst so richtig los. Wunschlos schwänze ich das Popfest.

Was man zwischendurch mal muss, geht in Wien unfassbar einfach. Überall gibt es öffentliche WCs. Und die verstecken sich nicht (wie in den Einkaufszentren von Frankfurt, das sonst gar keine hat), sondern stellen an den Straßenecken Schilder auf, die zu ihnen hinführen. Wiederauffüllen kann man sich an den unzähligen Brunnen und Trinksäulen. Die tropischen Augustnächte und -tage lang versprühen Masten auf Knopfdruck frisches Aerosol. Das Ruhedürfnis stillen flächendeckend Bänke und Einzelstuhlpaare. Extrabreit sind die und nicht volkspädagogisch abgeschrägt wie in Frankfurt: damit man keine Bierflasche draufstellen kann. Einträchtig steht die Gastronomiebestuhlung neben der öffentlichen an der Gasse – soll doch jede/r selbst entscheiden, wo er oder sie sitzt. Man ist hier so gut zu mir! Und „man“ heißt ein ums andere Mal: die Gemeinde Wien.

 

Herumgesprochen dürfte sich haben, was die für das Wohnbedürfnis tut, schon seit über hundert Jahren. Klafft in der atemberaubenden k.u.k. Zuckerbäckerbebauung eine Lücke, die von einem unansehnlichen Behelfsbau gefüllt wird, dann schämt man sich für den nicht, sondern schreibt in fetten roten Lettern drauf: „Wohnhausanlage der Gemeinde Wien, erbaut in den Jahren xy“. Wie ein Mantra grüßt der Spruch den Straßenbahn Fahrenden vielhundert Mal. Die große Zeit des öffentlichen Wohnungsbaus kam nach dem Ersten Weltkrieg, als fortschrittliche Architekten und Verwaltungen den Bedarf arbeitender Menschen zum Maßstab machten, ganze Stadtviertel ein modernes Aussehen annahmen und dabei mit Kindergärten, Gemeinschaftshäusern, Grünflächen und Kunst am Bau vielfältigen Bedürfnissen nachkamen. Frankfurt war damals Wiens Schwesterstadt in der Architekturrevolution. Die oberbürgerlichen Meisterspekulanten der letzten Jahrzehnte, gern SPD, traten das in die Tonne namens Vergessenheit.

 

Ich fahre mit der U4 zur Endhalte Heiligenstadt, stehe vor dem Karl-Marx-Hof, der berühmtesten Wohnanlage des „roten Wien“. Mein Stadtführer zeigt mir das Bild einer reliefierten Keramikfigur und nennt sie „der Sämann“. Ich frage mich zu der Figur durch und stutze: Die Figur sät nichts, sieht auch nicht aus, als besäße sie das Nötige. Die Hände greifen dahin, wo Hosentaschen wären, hätte die Figur genug an, woran Taschen zu befestigen wären. Bettelarm ist der Mann. Seine Hände machen die Geste der Armut: Sie drehen leere Hosentaschen um. Nein, der richtige Sämann steht dreißig Meter weiter vor dem Haus, ist eine Bronce und wurde 1920 von Otto Hofner geschaffen. Ein hübscher, durchtrainierter Bursche, erinnert von fern an Michelangelos David, womit das Tuch, aus dem er sät, auch ein Beutel sein könnte, in dem Steine warten würden darauf, auf gepanzerte Gegner geschleudert zu werden. Der kecke, freistehende Säman erntet zehn Jahre später vom vorerwähnten Keramiknachbarn an der Hausfassade Widerspruch. Josef Franz Riedels Figur von 1930 heißt zwar „Befreiung“, was insofern stimmt, als die Eisenringe um den Hals und um die Handgelenke nicht mehr durch eine Eisenkette verbunden sind. Das wars dann aber auch mit der Freiheit. Bettelarm ist der Mensch und die Stigmata seiner Sklaverei trägt er weiter mit sich herum.

Wenige Jahre später, im Februar 1934 erlangt der Karl-Marx-Hof traurige Berühmtheit, als hier die blutigsten Auseinandersetzungen stattfinden zwischen bewaffneten Arbeitern und den Truppen der Dollfuß-Diktatur. Bundesheer und Heimwehr müssen die Wohnanlage mit Kanonen beschießen, erst dann geben Kommunisten und Republikanischer Schutzbund auf. Unlängst, im Juni 2024 wurde am Karl-Marx-Hof wieder geschossen. Sieben Schüsse sollen es gewesen sein, aufgeklärt ist die Sache bisher nicht. In einigen Wiener Parks kam es in letzter Zeit zu Messerstechereien zwischen ethnisch diversen Gruppen von Jugendlichen, um Fragen der ethnischen Zugehörigkeit. Dahinter wuchern Ängste vor Entrechtung, falls Österreich mit den Nationalratswahlen im September nach rechts umkippen sollte. Die Regierungen des Bundes und der Länder haben gemeinsam die Versorgungsstandards für Flüchtlinge gesenkt. Wien macht da nicht mit, zahlt weiter wie bisher. Ob all die Wohltaten für den Stadtsäckel denn bezahlbar seien, frage ich beim Wein den studierten und berufserfahrenen Betriebswirt, dessen Gast ich bin. Wenn es den Zusammenhalt der Menschen fördere, sei das Geld bestens angelegt, meint der.

Ich erlebe ihn hier ständig, diesen Zusammenhalt. An der Supermarktkasse begrüßt die Kundin vor mir die Kassiererin mit „Junge Frau, ich krieg es billiger“. Sie klebt zwei kleine Marken auf Waren aus ihrem Einkauf. „25% Rabatt“ steht drauf. Dann dreht sie sich zu mir um. „Und der junge Herr auch“, sagt sie und versieht drei meiner fünf Artikel mit ihren Märkchen – zielsicher die teuersten.

Rotkäppchen und der braune Wolf

Denke ich an die neueren, längst nicht mehr neuen Wahlergebnisse in Europa, packt mich das Grauen. Rechts außen braucht es keine Argumente, kein bürgerliches Mäntelchen und nicht mal den Mindestleumund der Gesetzestreue mehr – die werden immer gewählt. Der Gedanke beschleicht mich, die bürgerliche Mitte könnte schon so schwach sein, dass ich ihr etwas Gutes tun muss. Sie wählen zum Beispiel. Um das noch Schlimmere zu verhindern. Von der Weimarer Republik erzählt man sich, sie sei untergegangen, weil die Mittelparteien nicht mehr gewählt wurden. Daran ist ein Haken, den ich in einer Koproduktion mit den Gebrüdern Grimm zu bezeichnen hoffe.

Reden wir über Rotkäppchen, das liebe Arbeitermädchen, das alle gernhatten und das solidarisch handelte mit den Schwachen. Wie der Name sagt, die Kappe zeigt und die Einstellung beweist: Rotkäppchen war links. Als nun das liebe Rotkäppchen erfuhr, dass es seiner bürgerlich-parlamentarischen Großmutter schlecht gehe, wollte es nicht säumen sie zu besuchen und ihr zu bringen, was die Gesundheit der betagten Frau wiederherstellen konnte. Kuchen und Wein, so viel ein proletarischer Haushalt davon hergibt, packte die Mutter in Rotkäppchens Korb. Aber Rotkäppchen wusste, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch etwas Schönes braucht. Darum ging es bewusst vom Weg ab, als es die hübschen Blumen auf der Wiese sah, brauchte dafür nicht den Ratschlag des durchtriebenen Wolfs, sondern nur Augen im Kopf und, zum Pflücken, Hände an den Handgelenken, proletarische Grundausstattung. Schon hatte es beisammen, was die bürgerliche Großmutter gernhatte und von ihren arbeitenden Kindern und Enkeln auch pünktlich einforderte.

Dem bösen Wolf ist Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter also gar nicht begegnet, behaupte ich (auch wenn der Grimm der Gebrüder mich von hier an verfolgt). Sie hat zwar von ihm gehört, weiß, dass er gerne Menschen frisst und da angeblich nicht wählerisch ist, alte Damen genauso mag wie Mädchen mit rotem Barett. Aber das sind Medienberichte. Man weiß nicht, was dran ist. „Warum sich um sowas einen Kopp machen?“ denkt Rotkäppchen, geht frohgemut zum Haus der Großmutter – einer stattlichen Villa mit Garten, der alles trägt, was Rotkäppchens Familie gern hätte – und klingelt. Nach der Gesichtserkennung durch die Sprechanlage und einer partiellen Deaktivierung der Alarmanlage tritt Rotkäppchen ein, geht zum Schlafzimmer der Großmutter und macht erst mal ein Kompliment: „Oma, du siehst aus wie immer.“ Dann erkundigt es sich nach dem Ergehen. Oh, ganz schlecht sei das, heißt es. Auf Lebensmittellieferungen und Blumensträuße müsse die Großmutter immer länger warten. Der Egoismus der Produzierenden nehme krass zu, andauernd streiken würden die. Neuerdings gebe es sogar Lieferkettengesetze und Pflanzenschutzauflagen, als ob Steuerlast und Bürokratie für ihresgleichen nicht schon lebensbedrohlich genug wären. Das Land „Euer Opa“ sei nicht mehr wettbewerbsfähig und sie, „euer aller Oma“, lasse sich nicht länger von selbstsüchtigen Nachfolgegenerationen auf der Nase herumtanzen. Andere Saiten würden jetzt aufgezogen, schreit die Großmutter und rasselt dazu mit einem Schlüsselbund, das Rotkäppchen noch nicht kennt.

„Hier sind Kuchen und Wein“, versucht es Rotkäppchen, „und da ein hübscher Blumenstrauß.“

„Zu spät“, schnauzt die Großmutter, wobei rechts und links in ihrem Maul stattliche Reißzähne aufblitzen. „Komm mal mit, Kleines“, sagt die angeblich Kranke, springt aus dem Bett und zieht Rotkäppchen hinter sich her durch Haus und Garten zu dem Tor eines weitläufigen Zwingers, in dem Rotkäppchen sogleich den Wolf erblickt. Er ist braun, was Rotkäppchen irritiert, sieht sonst aber aus wie im Schulbuch. Die Großmutter steckt mit der Rechten den Schlüssel ins Torschloss und reckt den Zeigefinger der Linken hoch in den Himmel. „Das habt ihr nun von eurer Frechheit. Mit diesem Wolf gemeinsam habe ich in Thüringen schon einen Ministerpräsidenten gewählt und Grunderwerbssteuern gesenkt. Den lasse ich jetzt raus und in mein Schlafzimmer. Das heißt, zu allererst lass ihn dich zu Rote Grütze pürieren und wegputzen.“

Rotkäppchen streckt ihrerseits einen Zeigefinger in die Höhe. Er zittert. Reflexartig nimmt die Großmutter ihr Enkelkind dran: „Ja, Rotkäppchen?“ Das Kind gibt alles, was es in der Schule gelernt hat, auch rhetorisch: „Großmutter, wenn du das machst, frisst der braune Wolf uns beide, das hat er nämlich schon ganz oft gesagt.“

„Pech, Grünschnabel, dass du es geglaubt hast“, sagt die Großmutter. „Der Wolf da frisst keine Inhaberin einer Bankkarte, deren PIN er nicht kennt. Uns mag er nicht, aber unser Geld. Und wenn wir ihm zeigen, wie er drankommt, mag es uns auch irgendwie.“ Damit öffnet die Großmutter das Zwingertor. Rotkäppchen fragt sich, ob der Wolf es lange neben der Großmutter in deren Bett aushalten wird. Es ist Rotkäppchens letzter Gedanke.

Moral aus der Historie: Wenn die Mitte bereitsteht dafür, die extreme Rechte an die Macht zu bringen, ist die Mitte kein Schutz, sondern die akute Hauptgefahr.

Moral-PS: Von links mit der Mitte koalieren kann helfen – so lange kommt Rechts nicht dran.

Moral-PPS: Die angeblich rechten 16- bis 24jährigen Deutschen haben bei der Europawahl genauso viel AFD gewählt wie der Durchschnitt – aber nur gut halb so viel CDU!

Paragraphenblüte

Die Wahrheitsdrohne überfliegt Deutschland und sendet historische Bilder: blühende Landschaften, soweit das Kameraauge reicht. Osten und Westen bedeckt von sattem Grün. Doch was wächst da, was blüht? Kohl scheint es nicht zu sein. Die Drohne zoomt sich ran und wechselt in den Tiefflug, um Rauchschwaden zu durchdringen, die von Deutschland aufsteigen. Letzter Zweifel verfliegt: Es ist Cannabis.

Flächendeckend stehen die übermenschlich großen Pflanzen in Dreiergrüppchen zusammen und verströmen ihr einst gefürchtetes Aroma. In jeder Pflanzengruppe steht ein über achtzehnjähriger Mensch mit dauerndem Aufenthalt in Deutschland und gießt seine drei legalen Lieblinge. In Vorgärten und Hinterhöfen, auf Balkonen und Dächern, überall da grünt es legal, wo Erwachsene wohnen und ihre Pflanzen gegen die Begehrlichkeit von Jugendlichen gesichert haben. Die dürfen nämlich nichts, wie üblich. Betritt ein erwachsener Mensch seine Wohnung, dann liegen da noch mal fünfundzwanzig Gramm Marihuana für ihn bereit – eine Menge, mit der sich für einen Monat der Zustand des Cleanseins weitgehend vermeiden lässt.

Doch den blühenden Landschaften naht ein Problem. Erntezeit bei Cannabis ist die Blütezeit. Geerntet wird die mit Harz gefüllte Blüte. Was macht nun der gesetzestreue Besitzer dreier Hanfpflanzen, die jede ihre zweihundert Gramm Marihuana abwirft, wenn die Ernte eingefahren ist? Teilen mit anderen darf er nicht. Verkaufen schon gar nicht. Besitzen auch nicht. Vernichten dürfte er den Überschuss, aber bleiben wir realistisch. Deutschland ist in dem besonderen Jahr ein Volk von Bauern geworden. Im August, zur Erntezeit, lodern nicht überall im Land die Hanffeuer, no way. Was der Bauer hat, das raucht er. Und zwar so schnell wie möglich, damit nicht allzu viele illegale Weckgläser voll des Räucherwerks in der Wohnung herumstehen. Sommerurlaub mal anders: Das Auto bleibt da, der Körper auch. Der Geist ist dann mal weg für sechs bis acht Wochen.

Nehmen wir, ebenso realistischerweise, an, die Polizei hackt sich ins Bordsystem der Wahrheitsdrohne und guckt „Deutschland von oben“, die Augustfolge. Was sehen die schreckensgeweiteten Beamtenaugen? Überall Pflanzengrüppchen wild im Gelände, in Parks, auf Brachland und, besonders auffällig, auf Brücken! Das geht doch nicht! denkt der sagen wir mal bayerische Einsatzleiter, rückt aus zur nächsten Brücke und stellt die Personen, die er antrifft, zur Rede. Doch doch, das gehe, antwortet man ihm frech. Die Brücke sei Wohnsitz im Sinne des Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis. Glaubt der Beamte nicht? Dann lernt er jetzt die Gesetzesdefinition. „Wohnsitz:  der Ort, an dem eine Person eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass sie die Wohnung beibehalten und benutzen wird“. Die genannten „Umstände“ würden sich ja wohl nicht ändern, fügt der Obdachlose hinzu, man nenne sie Kapitalismus. Und wünscht noch einen schönen Einsatztag, wozu er den Ordnungshüter mit der Abluft eines halben Gramms Marihuana einnebelt.

Der Polizeiobermeister ist sauer, er will jetzt irgendwas verbieten oder vereiteln. Das ist aber nicht so einfach. Dem ersten Kiffer, den er in der Stadt trifft, zeigt er einen Kinderspielplatz am Ende der Straße: „Keine zweihundert Meter Abstand! Das wird teuer.“ „Zwoahundertzwoa“, antwortet der Breite und raucht gemütlich weiter. Was tun? Der Polizist fordert im Zuge der Amtshilfe einen Vermessungsingenieur an. Als der nach drei Stunden eintrifft, deutet der Polizist auf den Spielplatz und als der Ingenieur gemessen hat, steht der Konsument drei Meter weiter. „Zweihundertundeinen Meter“ betrage der Abstand, so das amtliche Messergebnis. Der Polizist ruft seinen siebzehnjährigen Sohn an und nimmt ihn mit auf Streife, wodurch jeder Ertappte automatisch „in unmittelbarer Gegenwart von Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“, ertappt worden wäre. Doch schon beim ersten schnappt der Sohn sich dessen Joint, nimmt einen Zug und atmet aus mit dem Satz: „Happy Birthday mia selba! Papa, du hast meinen Geburtstag vergessen.“ Dem verzweifelnden Kulturschützer kommt eine letzte Idee. Er fährt zum nächsten Wald, stellt sich hinter einen Baum und springt hervor, als die ersten Ex-Kriminalschwaden an ihm vorbeiziehen. „Legalisierung“, lallen die Extäter, „schon gehört davon?“ Und haben mit der Antwort nicht gerechnet: Weil Autofahren in einem Wald verboten sei, handele es sich bei einem solchen logischerweise um eine Fußgängerzone. Und in einer solchen sei zwischen sieben und zwanzig Uhr verboten, was sie somit illegal gerade getan hätten. In dem Moment läutet es acht Mal vom nahegelegenen Kirchlein. Der Beamte bricht zusammen. Man wünscht ihm allgemein noch einen entspannten Abend.

Vom Kernstück des neuen Gesetzes haben wir damit noch gar nicht gesprochen, den siebeneinhalb Seiten und neun Paragraphen über die „Anbauvereinigungen“. Zu dieser höchsten Blüte am Gesetzesstamm nur so viel: Wer es jemals schaffen sollte, sämtliche Vorgaben zur Gründung einer solchen Vereinigung zu erfüllen, die oder der hätte etwas geschaffen, das mit seiner Komplexität und Undurchschaubarkeit in direkte Konkurrenz zum deutschen Staat treten würde.

Endlich in einer Beziehung: Schweden

Heute kreist die Wahrheitsdrohne über Schweden, dem jüngsten NATO-Mitgliedsland. Alles ist anders, zweihundertzehn Jahre Neutralität sind beendet, demnächst vielleicht zweihundertzehn Jahre Frieden.

Auf jeden Fall die Pressefreiheit. Ein neues Gesetz stellt alles unter Strafe, was als Unterstützung des Terrorismus gelten kann. Bei der Definition hilft der neue Partner Türkei. Im Gegenzug erhält er schwedische Waffen nebst Unterstützung bei der „Terrorismusbekämpfung“. Dafür gibts die NATO-Mitgliedschaft für Schweden, wofür die Türkei wiederum US-Kampfflugzeuge bekommt, demnächst als Dauergäste im nordsyrischen Luftraum erwartet, den die USA offiziell überwachen. Am Boden zieht Schweden dort die Unterstützung zurück, die es zivilen Kräften erst vor knapp zwei Jahren zugesichert hatte.

Schwedisch-türkischer Honeymoon, da ist ein Blick auf den neuen Partner erlaubt. Seit drei Monaten fliegt er eine Offensive nach der anderen auf das Gebiet der Demokratischen Kräfte Syriens, kurdisch Rojava. Im November zerstörten türkische Drohnen das Gasverteilungszentrum Siwêdiyê, das einer Region mit einer Million Einwohnern Strom lieferte. Im Januar brachte ein weiterer Drohnenangriff die Stromversorgung in neun Städten und zweitausendzweihundertzweiundreißig Dörfern weitgehend zum Erliegen. „Mitten im kalten Winter“, heißt es im Kirchenlied. Schulen, Krankenhäuser, die Treibstoff- und Grundversorgung der Bevölkerung wurden angegriffen, etwa eine Mühle, die täglich eintausend Tonnen Mehl produziert hatte. Anfang Februar beschossen türkische Drohnen Zivilschutzeinheiten in Qamişlo, eben damit befasst, neu entstehende IS-Strukturen in dem mit fünfundfünfzigtausend Insassen größten Internierungslager für ehemalige IS-Kämpfer und ihre Familien auszuheben. Tage später wurde ein Rehabilitationszentrum für Kriegsversehrte in Nord- und Ostsyrien bombardiert. Dort starben Menschen, die im Kampf gegen den IS verwundet worden waren und sich auf einen Wechsel in zivile Berufe vorbereiteten. Die ständigen Luftangriffe, speziell die auf Bewacher von IS-Gefangenen, können dazu führen, dass Letztere sich massenhaft befreien, ist vor Ort zu hören. Es wäre Absicht. Die Türkei ist de facto verbündet mit dem Satanischen Staat, wie die Kopfabschneider zutreffender heißen sollten. Sie wird dabei gedeckt von einem Bündnis, das Erdogans Definitionen kritiklos übernimmt. NATO-Generalsekretär Stoltenberg  2017: „Bedenken Sie bitte, dass kein anderes NATO-Land so stark von Terroristen angegriffen (sic) wurde wie die Türkei.“

Glückwunsch, Schweden, dein Neuer ist ja richtig sympathisch! Und passt so gut zu dir. Wie, du bist liberal und er nicht? Mal langsam. Er gründet bald eine „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ (DAVA) bei dir wie in Deutschland. Die räumt mit der „Gender-Ideologie“ auf und ist offen für alle Muslime, freu dich drauf. Deine Schwedendemokraten sind Nationalisten, er auch. Deine Köttbullar heißen Köfte bei ihm und schmecken sogar. Dein Stahl findet Verwendung in seinem Wahrzeichen, dem Dönerspieß. Er trinkt gern Schnaps, aber heimlich, genau wie du mit deinem verklemmten Alkoholgesetz. Glaubst du nicht? Guck dir den Präsidenten an, die Augenringe, der Teint, der glasige Blick sagen wohl genug. Pornographie verkaufst du da besser als zu Hause, bei all den Vorhängen, Umhängen, Vorhängeschlössern an den Frauen der Notbehelf für die Machomännchen. Was in den tausend Zimmern des Präsidentenpalasts abgeht, willst du gar nicht wissen. Der Präsident weiß es selbst nicht mehr. Und komm, religiös warst du auch immer, sektenreich und verschwurbelt, wenn man deinen Dichtern von August Strindberg bis Per Olov Enquist glauben darf. Lies Orhan Pamuk und du siehst in hundert Spiegeln dein religiös-sentimentales, vor Selbstliebe aufgeplatztes Frömmlergesicht. Nein nein, mit Islam oder Christentum hat das nichts zu tun. Das ist einfach nur unangenehm.

Und wenn du noch immer zweifelst – er hat Drohnen! Lass es dir von einer Drohne sagen: Dein neuer Freund ist der größte Drohnenproduzent und -verkäufer weltweit. Seit 2021 haben fünfzehn Länder Bayraktar-TB2-Drohnen bei ihm gekauft. Ein weiteres Dutzend Länder hat bestellt und wartet. Die meisten Kunden setzen die Waffe innerhalb der eigenen Grenzen ein, gegen ihre Bevölkerung. Greif zu, vielleicht kriegst auch du mal Ärger mit den Schwed:innen, zum Beispiel wenn sie merken, was deine Aufrüstung kostet. Du fragst nach einem Beispiel für den intranationalen Einsatz von Bayraktar-Drohnen? Ich gebe dir eins: die Ukraine. Am 26. Oktober 2021, vier Monate vor dem gern „unprovoziert“ genannten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands, setzte die Ukraine erstmals eine Bayraktar TB2 gegen Stellungen im abtrünnigen Donbass ein. Honi soit qui mal y pense? Ich denke: Dein neuer NATO-Freund weiß genau, was er tut. Vom wenig später ausgebrochenen Ukrainekrieg profitiert er dreifach: als „Vermittler“, als Waffenhändler, vor allem aber mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Nordsyrien, für den die (ab)gelenkte Öffentlichkeit gerade keine Zeit und kein Interesse hat.

Friede den nordsyrischen Hütten! Friede auch dem Präsidentenpalast – wenn er nur zu der türkisch-kurdischen Aussöhnungspolitik zurückkehren wollte, die bis Juli 2015 erfolgreich von Erdogan getestet wurde.

Im Eck ich steh, ich tu ihm weh – wer bin ich?

Gleich wird es hier so persönlich, dass ich keine Zeugen gebrauchen kann. Ich muss mit dem Gegenstand meiner Auseinandersetzung allein sein, weshalb ich ihn direkt ansprechen werde. Achtung, ich spreche: Wie – frage ich dich – soll es zwischen uns weitergehen? Was für Qualen gedenkst du mir weiter zu bereiten, die ich nicht entweder schon kennen oder aber mit endgültiger Trennung von dir beantworten würde?

Ach guck mal, die Wahrheitsdrohne schwirrt ab. Ernsthafte Beziehungsarbeit ist nicht so ihr Ding, scheints.

Wo war ich stehengeblieben? Richtig: bei meinen Qualen. Bei meinen Schmerzen. Stehend vor dir als der Ursache denke ich Sachen wie: Bin das wirklich noch ich? Ich kann nämlich zwischen dir und mir nicht mehr unterscheiden, so nah sind wir uns gekommen. Du bist ein Teil von mir geworden. Du wütest in meinem Innersten. Der Schmerz, den du mir bereitest, füllt mich aus wie das Bier das Glas. Man sagt „Glas“ und meint in Wirklichkeit Bier, das sich in einem Glas befindet. Ich betrachte mich im Spiegel und sehe in Wirklichkeit dich. Was du mir angetan hast, zeichnet sich ab in meinem Gesicht, vollständig. Oder nicht mal: Ich bräuchte zwei Gesichter – wie meine wohlhabenderen Freunde zwei Bildschirme auf ihrem Schreibtisch stehen haben – um alles anzeigen zu können, was du mir angetan hast. Die ganze Breite der Palette, mit der du den Schmerz in meine zwei Gesichter gemalt hättest.

Zwei Wochen vor Weihnachten fing es an. Ich dachte sofort über Trennung nach, wollte aber das Fest noch ein Mal mit dir erleben. Ich brauchte dich für dieses Fest, für seine dreitägigen Freuden. Und irgendwie lief es sogar. Ich dachte schon, du wolltest dich vertragen mit mir.

Aber nein. Zwei Tage nach Weihnachten ging es wieder los. Ich schluckte Tabletten und Alkohol durcheinander, um zu verarbeiten, was du mir neuerlich antatest. Und ich schluckte die Einsicht, ärztliche Hilfe zu benötigen. Im weiten Rund unserer gemeinsamen Heimat telefonierte ich nach Beistand. Alle waren im Urlaub und verwiesen auf Vertretungen in Bundesländern, die ich noch nie bereist habe. No way. Wir würden zusammen ins neue Jahr gehen, soviel war klar. Unberaten und ohne ärztliche Aufsicht würden wir über die Zukunft unserer Beziehung entscheiden, glaubte ich.

Dann überschlugen sich die Verwicklungen. Den Jahresanfang hindurch telefonierte ich ganztägig mit Fachärzten. Ihr Urlaub war verlängert worden. Als der Telefonseelsorge die Ratschläge ausgingen, suchte ich einen Notdienst auf. Der jugendliche Arzt riet zu einer analytisch bohrenden Paartherapie. Ich flüchtete mich in einen zwei Wochen späteren Termin bei einem Niedergelassenen. Der war noch jünger und empfahl die Trennung. Liegend auf seiner Couch traf mich der Schlag. Ich argumentierte mit der besonderen, unverzichtbaren Stellung, die du in meinem Innern einnehmest. Verlöre ich dich, werde dort alles zusammenbrechen, weissagte ich und entkam dem Weißkittel mit letzter Entschlusskraft. „Ich kann nicht ohne ihn leben!“, rief ich durch den Spalt der zufallenden Praxistür.

Jetzt ist es raus. Es geht nicht um meine Frau. Du, Schmerzgebärender, stehst mir näher als sie, begleitest mich auch schon Jahrzehnte länger. Schwul bin ich allerdings auch nicht geworden. Es ist alles komplizierter. Du seiest in Wahrheit schon abgestorben, hatte der Niedergelassene gesagt, werdest mir so jedoch noch gründlicher wehtun als zu Lebzeiten.

Ich weiß nicht, ob es stimmt. Ich spüre nur noch einen unbestimmten, fast nostalgischen Schmerz, wenn ich an dich denke. Auch frage ich mich, ob ein so junger Arzt die Probleme einer so langen Beziehung überhaupt versteht. Er geht doch von frisch Verliebten aus, die schmerzfrei zusammenarbeiten – weil es das ist, was er kennt. Solche Ansprüche stelle ich aber nicht. Ich stehe zu dir mit all deinen Mängeln und Beschädigungen. Selbst dein Tod nimmt dir nichts von deiner Bedeutung für mich, wenn du nur bitte, bitte weiter mein Essen kleinmachst. Ich putze und pflege dich liebevoller als in deinen strahlenden Jugendjahren – und du zahlst mit Verweigerung und heimsuchendem Schmerz zurück?? Die Wut, die ich so langsam auf dich habe, wird mir helfen müssen mich von dir zu trennen.

Wenn ich Francoise Rosay ein dentistisches Bonmot in ihrem hübschen Mund umdrehen darf: Zähne sind wie Frauen. Es dauert lange, bis man sie bekommt. Und wenn man sie hat, tun sie einem weh. Und wenn sie nicht mehr da sind, hinterlassen sie eine Lücke. Eigener Zusatz: Die größte Lücke hinterlassen die, die immer (still) in der Ecke standen.

Schuster, bleib bei unseren Flügeln

Es begab sich aber zur Weihnachtszeit, dass ich gen Frankfurt-Sachsenhausen radelte, um ein Geschenk zu kaufen. Kein Weihnachtsgeschenk, sondern ein Bild für eine der vielen Wände der Wohnung, die sich ein Freund gerade gekauft hat. Auf der Fechenheimer Fahrradbrücke erreichte mich der Anruf einer jungen Autorenkollegin, die ich in Sachsenhausen treffen wollte. Sie sei gerade in Fechenheim. Also verabredeten wir uns in einer kleinen Cafè-Galerie dortselbst.

Die Inhaberin hatte mich vor vielen Jahren zu einer Lesung eingeladen, seitdem nicht mehr gesehen. Nun wollte sie wissen, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen sei. Ich weiß nicht, warum ich nach drei Sätzen bei einem Thema war, das die Dreiviertelstunde, die wir auf meine Kollegin warteten, vollständig ausfüllte. Es war das Thema des schreibenden Verlegers. Ja, berichtete ich wahrheitsgemäß, der Verleger, bei dem ich vor Jahren rauskam, schreibt jetzt. Also selber. Ja genau, Bücher. Ja wie ich das denn fände. Ich weiß nicht, ob die Galeristin überhaupt dazu kam, es mich zu fragen, so schnell antwortet ich: Na ja nee!! Also nicht so. Das heißt … ja ja, doch doch! … Das Schlimmste ist nämlich: Er schreibt gut. Eigentlich in Ordnung also, oder was heißt in Ordnung, unbedingt notwendig, dass seine Sachen erscheinen, dass sie dann auch gekauft, gelesen, geliebt werden. Ja doch.

Und ich? Und wir, seine Autorinnen und Autoren? Was wird aus uns?

Immerhin: Im Unterschied zu manch anderem verlegt der Verleger seine Werke nicht selbst, sondern bietet sie Kolleg:innen an. Und die drucken sie aus dem einfachen Grund, dass sie gut sind. (Habe ich „leider“ gesagt?) Insofern trennt er die zwei Herzen in seiner Brust sauber. Dann kommt allerdings Jesus und guckt genauer hin: „Wo dein Schatz ist, da wird dein Herz sein.“ Welches der zwei Herzen schlägt? Ich weiß nur das: Mein letztes Buch bei dem Verleger hatte genau eine Lesung, die der Verlag für mich arrangiert hat. Im selben Jahr hatte der Verleger mit seiner eigenen Neuerscheinung zwanzig Lesungen. Nein, die hat nicht sein Verlag für ihn arrangiert. Und ja, ich hatte zehn Lesungen mehr als er. Aber bei der Hälfte war es eine lange, lästige Stange Arbeit für mich, sie zu verabreden. Das nächste Buch habe ich dann in einem anderen Verlag rausgebracht.

„Weil da zwei Kolleginnen hartnäckig für dich geworben haben“, plärrt die Wahrheitsdrohne dazwischen. Sie hat Recht. Das ist die Hauptnachricht dieser Glosse. Sowas tun Autorinnen auch (gendern will ich hier nicht, Goethe hat Recht: Frauen sind die besseren Menschen): selbstlos helfen. Und das, obwohl, wie ich bald erfuhr, die Guten und ich plus zweihundert Weitere das bekannte Problem haben: Auch dieser Verleger schreibt. Schon viel länger als ich veröffentlicht er Literatur. Und muss ich es noch hinschreiben? Es war ja so klar. Es konnte ja nicht anders kommen: Seine Sachen sind gut. An der Stelle ungefähr kam die junge Kollegin zur Tür reingestolpert, fiel auf einen Stuhl, klappte vor mir ihren Laptop auf und sagte, während sie in aller Ruhe aus dem Mantel kroch: „Hier, lies das mal. Hab ich heute geschrieben. Aber lies es genau. Ich glaub, ich hab noch nie was so Gutes wie das geschrieben.“

Und wieder stimmte es. Nachdem ich drei Seiten gelesen hatte, hatte ich allerdings eine Vision und tat nur noch so, als ob ich weiterläse. Vor meinem inneren Auge stand ein nicht endendes Schuhregal, in dem lauter geflügelte Schuhe standen. Ein selbstloser Mensch hatte diese Schuhe für uns, seine Autor:innen, angefertigt, damit unsere Literatur sich in alle Winde verbreitete. Ich war so gerührt, dass ich kaum aufwachte von der Frage, die die Kollegin mir schon dreimal gestellt hatte: „Sag mal, könntest du bei deinem Verleger anfragen, ob er das Buch vielleicht machen will?“ „Ich weiß nicht“, antwortete ich, „ob das der richtige Platz wäre. Da sind schon so viele Autoren … Und dein Manuskript hat das Potenzial für einen großen Publikumsverlag, wirklich. Also ich an deiner Stelle …“ „Schon gut, war ja nur ne Frage“, lenkte die Jungautorin ein und ich hatte ein schlechtes Gewissen. „Aber du hattest auch ein Bisschen Recht“, schnattert die Wahrheitsdrohne plötzlich. Dass die mal was zu meinen Gunsten sagt!

Ich tat, was schlechte Menschen tun, wenn sie nicht weiterwissen. Ich lenkte ab, mit einem Hinweis auf die Bilder, die an den Wänden der Galerie hingen. Nach ein paar Höflichkeiten fiel mir ein, dass ich auf der Suche nach einem Bild war. Aber bitte keins von denen, wusste ich. Da bemerkte ich eine kleine Arbeit, die in der hintersten Ecke des Raums auf einem Bücherbord lehnte und, wie ich bei Annäherung sah, schon eine Weile vor sich hin staubte. Sie gefiel mir auf Anhieb. „Ach das“, sagte die Galeristin. „Das ist von mir.“

Ich handelte den Preis geringfügig runter und kaufte das Werk einer Galeristin, deren Ausstellung von in Öl gemalten Porträts mich und die Galeristin, während ich mich verabschiedete, aus einem Dutzend Augenpaaren hasserfüllt anstarrte.

gedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 21.12.2023

Wenn einer Reisen tut

Hochmut kommt vor dem Fall. „Du bist doch gar nicht gefallen“, schnurrt die Wahrheitsdrohne. Kinder und Drohnen sind üble Rechthaber. Was ich sagen will: Ich war immer so stolz darauf, sämtliche Fahrradstürze selbst gebaut zu haben, ohne die Mithilfe all jener Kraftfahrer (alle männlich, gendern wäre hier lügen), die schon versucht haben mich mit ihren Kraftfahrzeugen zu töten.

Jetzt hats einer geschafft. Also mich angefahren, ich lebe ja noch (Tote schreiben keine Kolumnen). Jetzt ist es aus mit dem Stolz und der dazugehörigen Sicherheit, in der ich mich gewogen habe. Autos können auch anders. Nicht nur fahren, als ob es keine Radfahrer gäbe, und zynisch recht behalten damit, weil der Radfahrer am Ende doch nicht tot ist, obwohl das Auto alles getan hat dafür. Sondern genauso fahren und am Ende auch treffen.

Ja, es war dunkel. Ja ich hatte einen dunklen Mantel an. Der Zebrastreifen, an dem es geschah, war aber in grelles Licht getaucht. Und ich befand mich, ehe es geschah, mit meinem Fahrrad längst auf dem Zebrastreifen. Also nicht das Spiel ‚wer zuerst drauf ist‘, das ich auch schon gespielt habe, zugegeben. Nein, ich bin drauf, beinahe schon drüber und merke plötzlich: Das interessiert den Autofahrer nicht, der von links kommt. Der vermindert seine Geschwindigkeit nicht. Okay, denke ich, jetzt hast du noch genau eine Chance: scharf nach rechts, zurück an den Straßenrand. Vielleicht schafft er es noch vorbei an dir. Aber nix. Der Fahrer will nämlich rechts abbiegen und nimmt mich auch am Straßenrand auf die Hörner. Vulgo: klemmt meinen linken Fuß mitsamt Pedal zwischen Rad und Radkasten ein, schleift mich ein Stück mit und bleibt dann stehen.

„Wenn du Leute töten willst, kauf dir ein Gewehr!“, schreie ich. Was man manchmal redet. Da sind schon sinnfreie Sachen dabei. Umgefallen bin ich nicht, der Punkt geht an die Wahrheitsdrohne. Ging nicht, weil der Fuß eingeklemmt war. Mühsam zoppele ich das Pedal aus dem Radkasten, zieh den Fuß hinterher und will vorne das Kennzeichen ablesen. So einer, habe ich mir immer geschworen, kommt mir nicht unter versuchtem Totschlag davon. Das guckt sich jetzt mal die Polizei an, die Sorte ist anders nicht resozialisierbar. Aber scheiße – es ist der Dieter (Name von der Redaktion geändert), was da aus dem Auto krabbelt! „Sorry, hab disch net gesehe,“ kräht Dieter. „Sag mal, wir kennen uns doch“, sage ich. Dieter guckt eine Weile, ruft dann: „Mensch, Eddy, des gibbs doch gannet. Tut mer escht leid. Iss was passiert, samma do?“

Na ja, wie mans nimmt. Den Dieter kenne ich von zahlreichen Hoffesten in meiner Straße. Wir haben schon manche Flasche Wein zusammen geleert, manchen Vogel sein erstes Lied singen hören morgens. Wir und noch zwei, drei andere. Den Dieter zeige ich auf keinen Fall an. Dem rede ich ins Gewissen, das ja. „Du musst da mal drüber nachdenken, Dieter. Das hätte ganz anders ausgehen können eben.“ Dieter und Nachdenken sind allerdings nicht leicht in eine engere Verbindung zu bringen. „Ja scheiße. Aber ich hab disch escht net gesehe!“, ist ihm erneut wichtig zu betonen. Was genau will er mir mitteilen? Dass er andere Leute, wenn er sie sieht, absichtlich umfährt und dass ich so unbeliebt wie die bei ihm gar nicht bin? Würde mich das, falls es die Botschaft ist, in dem Moment trösten?

„Isch zahl des, gakaa Fraach“, sagt Dieter, nachdem ich testweise gemerkt habe, dass das Fahrrad nicht mehr fährt. Der Fußknöchel schmerzt. Zur Arbeit gehe ich heute nicht mehr. Zum Arzt dann auch nicht. Dem Hausarzt habe ich dummerweise erzählt, dass es ein Wegeunfall war. Damit darf er mich nicht mehr untersuchen. Den Unfallarzt müsste ich erst mal selber zahlen und die Berufsgenossenschaft lasse ich aus dem Spiel. Einmal wegen Dieter. Dann auch wegen des einzigen Arbeitsunfalls, den ich jemals gemeldet habe. Auf einer Dienstreise war der. Die Sachbearbeiterin entnahm den eineinhalb Zeilen des Unfallarztes, dass meine körperliche Fitness für Belastungen wie Reisen nicht mehr ausgereicht habe, weshalb es sich um keinen Arbeitsunfall gehandelt habe, da ich die Reise unberechtigterweise angetreten hätte. Auf der Unfallarztrechnung blieb ich sitzen. Bei dem Versuch, die Entscheidung der Sachbearbeiterin anzufechten, erfuhr ich, dass die Dame krankgeschrieben sei. Sechs Monate blieb das so. Ich gab auf.

Gut, der Dieter hätte diesmal gezahlt. Ich hatte einfach keinen Bock auf die Berufsgenossenschaft, an der ich nicht vorbeigekommen wäre, und keinen auf den Ärger, den der Dieter dann bekommen hätte. Er hat die Fahrradwerkstatt bezahlt. Das reicht: Wir haben ihm schön was aufgeschrieben.