Premigration!

Wieder ein Hotel – und wieder in Potsdam! Weil CORRECTIV keine Zeit hat, ist die Wahrheitsdrohne hingeflogen und zeichnet alles auf, durchs offene Fenster, im Auftrag von Fox-News, wie sie frech behauptet. Sogar ein Interview wird ihr gegeben, vom Anführer einer Geheimorganisation, die die „Premigration“ von Millionen Deutschen nach Amerika vorbereitet. „Na ja, der Redakteur hätte mal kommen können“, mault der Mann, „aber meinetwegen. Was wollen Sie wissen?“ Die Drohne wird zum ersten Mal gesiezt und verhaspelt sich prompt bei der ersten Frage:

Herr Schmerz, wawawas bebedeutet „Premigration“?

Das Wort habe ich erfunden. Es verbindet die Worte premium und gratia. Ich sage, dass nur die Besten mitkommen, und zwar von Meinen Gnaden. Die Vorsilbe pre deutet überdies an, dass wir dem Projekt der Konkurrenz zuvorkommen: der Remigration. Sehen Sie, Millionen Menschen vertreiben ist anstrengend. Ich mache das nicht. Stattdessen wandern wir selber aus und lassen die Wähler der Konkurrenz mit den Ausländern allein.

Aber Sie sind doch der nächste Kanzler.

Falsch. Ich tue zwar so, als würde ich der nächste Kanzler. In Wahrheit bedeutet aber ein Kreuz für meine Partei auf dem Wahlzettel das Ticket für die Überfahrt. Ich habe mit der Bundeswahlleiterin gesprochen, die Zettel werden gesammelt und mir ausgehändigt. Wer die rechte untere Ecke geknickt und in der Wahlkabine ein Selfie gemacht hat, kommt mit.

Und warum wollen Sie alle weg?

Der große Austausch ist nicht mehr aufzuhalten. Die Konkurrenz streut dem Wähler Sand in die Augen, aber wir wissen: Die Deutschen sollen die Sklaven der Ausländer werden, und das machen wir nicht mit. Die werden schön gucken, die Ausländer.

Sie gucken aber auch ganz schön. Ihr Blick kann einem ja Angst machen.

Richtig. Man nennt mich den BlackRock-Vampir und da ist was dran. Ich entstamme einem alten sauerländischen Vampirgeschlecht. Mein Blick hat die Kraft, alles Deutsche anzusaugen. Ist es angesaugt, nehme ich es mit nach Amerika und weg ist das komplette Restdeutsche aus dem so höchstens noch genannten „Deutschland“.

Warum denn nach Amerika?

Wir folgen da einer Prophetie, die vor hundertfünfzig Jahren ausgesprochen wurde. Damals war es wie heute, der ehrliche Deutsche hatte in seiner Heimat keine Chance. Ihm wurde gesagt: Dein Dorf wird abgeschafft und du musst in einer Stadt leben. Die Bestürzung war groß, keiner wusste, was eine Stadt ist. Man wusste, dass da Zeitungen und Bücher gedruckt wurden, die keiner lesen konnte. Man wollte weit weg sein, wenn es passierte. In der Stunde der Not stand in einem pfälzischen Dorf ein Prophet auf und kündete: „Im Westen, hinter dem großen Wasser, liegt ein Land, in dem es keine Druckerzeugnisse und Städte, sondern nur niedliche kleine Dörfer gibt. In das Land müsst ihr ziehen und hundertfünfzig Jahre warten. Dann wird ein Präsident aufstehen – und nach gestohlenen vier Jahren gleich noch mal aufstehen – , der sich eurer annimmt wie ein Bruder. Euer Bruder wird er sein, weil er von einem von euch, die ihr heute in die Ferne zieht, abstammen wird.“ So sprach der Prophet, den man bald den pfälzischen Marcus Garvey nannte („Exodus! Movement of de Pälzer“). Wobei er mit bürgerlichem Namen Dumbold Trampel hieß.

Ach so, Sie meinen den Trump.

Richtig. Das ist der Enkel. In unseren Tagen erfüllt sich die Prophetie. Ich habe mit dem Präsidenten gesprochen, deutsche Einwanderer sind willkommen. Wenn sie die Schnauze halten und amerikanische Autos und Grenzzäune bauen, vergisst er die Sache mit dem Weltkrieg und den Whiskeyzöllen.

War Trumps Großvater nicht Friseur? Von einem Propheten habe ich noch nie gelesen?

Friseur, Prophet – wo ist der Unterschied? Schauen Sie sich die gelben Haare an. Noch Fragen?

Ja, die hier: Der Großvater wurde vom Deutschen Reich ausgebürgert, als Fahnenflüchtling. Sie sind Fahnenjunker, Herr Schmerz. Ist das dasselbe?

Im Gegenteil. Ich wäre fast Reserveoffizier geworden, hab mir dann aber das Knie wehgetan an der Panzerluke. Die Waffen sind zu klein hier. Wie die Boni. (Lacht)

Noch eine Frage: Werden Ihre Wähler Ihnen auch folgen – in ein unbekanntes Land, so weit weg?

Sie sprechen da ein Problem an, das uns Kopfzerbrechen bereitet hat. Der Prophet drückte sich in der Sprache seiner Zeit aus. Aber seine Jünger glauben ihm aufs Wort. Gesagt hat er: „Wenn ihr den Rauch des schwimmenden Hauses aus dem Tal des großen Flusses aufsteigen seht, dann wallet hurtig hernieder von den Weinbergen ans Ufer und rein in das Schwimmehaus!“ Sie sehen das Problem vor sich. Aber es ist gelöst! Wir lassen tatschlich Raddampfer den Rhein runterfahren nach Rotterdam. Ratter ratter! Die werden mit deutscher Steinkohle betrieben, die wir über die Jahre gesammelt haben. Wo war die versteckt? fragen Sie sich. Antwort: Im Kyffhäuser. Alle deutschen Träume auf einmal werden wahr in meiner Gestalt.

Und ihr Flugzeug?

Ist schon drüben. Mit meinem Kaminpfleger, den hab ich letzte Woche rübergeflogen.

Kaminpfleger? Was ist das denn?

Das ist ein Afrodeutscher, der macht Ihnen ein richtiges Lagerfeuer in Ihrem Wohnzimmer. So was hat der Präsident noch nicht gesehen. Bei mir zieht das immer nicht richtig, darum beschäftige ich einen Migranten in meinem Haushalt.

Und wie wird das mit Trump und Ihnen auf dem Golfplatz? Haben Sie geübt?

Ach wissen Sie, ich seh den Ball nicht mehr richtig. Meine Füße sind so weit weg. Wegen meiner Steifheit eigne ich mich immerhin zu dem, was ich in der Schule war: zum Schläger. In den richtigen Händen hab ich richtig Spaß. Olaf Scholz eignet sich nur als Ball.

Sie und Trump – sehen wir da einer echten Männerfreundschaft entgegen?

Definitiv. Im Puff werde ich eher auf die Anziehsachen aufpassen. Aber die Kamingespräche über Derivate und Krypto werden bestimmt schön.

Am Ende des Tages haben Sie dann aber nichts regiert, nirgendwo. Tut das nicht weh?

Nein. Die Reserve ist mein Ding. Wenn Sie in ein großes Land einmarschieren, entscheidet die Reserve über den Sieg. Aus Zeitgründen. Da wird mein Freund an mir und meinen / seinen Landsleuten noch viel Freude haben. Die Last Americans (L.A.) – so heißt unsere Geheimorganisation – sind einsatzbereit bis zum letzten Schulbub.

Geheimorganisation? Dürfen Sie dann überhaupt mit mir reden?

Ich rede allgemein recht gern. Das ist so eine Art Hobby von mir. Als Politiker habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht.

Rheinnymphen

Ein Tag am Rhein ist wie ein Monat an einem anderen Fluss

das Fahrrad trägt dich das Tal hinunter und auf die Berge

der Bus färhrt bis auf den Venusberg

und ein anderer Bus fährt wieder runter

viele Züge fahren ohne funktionierendes WC

aber nicht alle Fahrgästen kommen ganz hinten an.

Am besten du sitzt im Café Panor in Bad Godesberg

und lässt dir türkische Rhythmen auf den Tisch stellen.

Bluz’n Pivo

Mittwoch, 2. Otober 2024, 15 – 16 Uhr

WortWellen – Radio X Ffm

„Bluz’n Pivo“ alias „Blues’n Beer“ heißt eine Livemusik-Kneipe auf der Cetinjska ulica in Belgrad. Aus dieser Kneipe, genauer von einem Blues-Rock-Konzert des Bassisten Nikola Marković und seiner Band stammt die Musik der Sendung. Den musikalischen Nachschlag gibts von der Nachbarstraße, der berühmten Skadarska, die ich mit meinem Aufnahmegerät für euch runtergeschlendert bin vom Festungsberg bis zum Marktplatz, an einem Samstagabend, als in jedem der unzähligen Straßenrestaurants Live-Musik im Original Balkanstyle ertönte. Zwischendurch erzähle ich euch Geschichten von traurig bis lustig aus dem Belgrad, das ich diesen Sommer ausführlich erlebt habe. Herzliche Einladung eures WortWellenschlägers Ewart Reder.

Der Frustrator

Die Belgrader Straße, in der ich wohne, hat viele dominante Bewohner. Man fragt sich, wen all die Alphawesen überhaupt dominieren wollen. Es müssten Wesen ohne eigene Dominanz sein und die sind in der Straße selten. Autofahrer preschen dieselbe runter, als wären Fußgänger Straßendreck. Fußgänger kratzen sich in der Straßenmitte so konzentriert am Hodensack, dass sie dafür stehenbleiben. Autos haben keine Hoden, müssen nicht ernst genommen werden. Wollte die Straße einen Diktator wählen, gäbe es nur Kandidaten und keine Wähler.

Und doch ist einer, welcher dieses Unbedingt auffallen unendlich sanft … nein, falsch abgebogen, das war Rilke. Einer ist da, muss es heißen, welcher dieses Gerangel mit einer Mischung aus Hartnäckigkeit und unerschütterlichem Glauben an sich selbst seinerseits dominiert. Dieser eine verdient es, als Herrscher der Straße angesprochen zu werden, und ist überraschenderweise ein Hund.

Welche Definition von Herrschaft willst du? Immer das letzte Wort behalten. Sich in alles und jedes Verhalten anderer einmischen. Keinen Anspruch neben dem eigenen anerkennen. Der Hund unseres Nachbarn erfüllt sämtliche Kriterien für Herrschaft. Ausgeübt wird diese von ihm durch Bellen. Gerne bellt er anlasslos. Zum Beispiel morgens früh um halb fünf, wenn in dieser Straße kein Mensch, kein Hund und keine Maus unterwegs ist, bellt er. Wie tut er es? Ich würde sagen: nachdrücklich. Jedes einzelne Wau ist ihm wichtig, weshalb er zwischen den Einzelwauen kurze Kunstpausen macht. Wie Eltern, die der Nachkommenschaft eine Mitteilung einhämmern wollen: Jeder Hammerschlag muss sitzen, jedes Wort, jedes Wau so präzise, dass man denkt: Dies Wau war  wirklich unvergleichlich eindrucksvoll. Was nie stimmt, weil das nächste immer noch bedeutender ausfällt.

Denkt zumindest der Hund und kriegt nicht genug von seiner Bedeutung. Bis ihm plötzlich ein Wau verrutscht. Kriegen Hunde Stimmbruch? So klingt jedenfalls das meinetwegen achtunddreißigste Wau und der Hund merkt: Mist, der eine Patzer kratzt an der Würde meiner Rede mehr als die siebendreißig Treffer vorher zu ihr beigetragen haben. Was mach ich bloß? Die Antwort lautet: Weiter. Nur die Länge des Vortrags bietet die Aussicht, den Patzer beim Publikum in Vergessenheit zu bringen, in Kombination damit, dass fortan alles klappt. Was es nie tut – da capo al infinito. Der Spaß kann dauern.

Wer übrigens fragt, woher ich wissen will, was der Hund denkt: Für sowas hat man seine Wahrheitsdrohne.

Der Hund wiederum hat für sein Bellen seine Gründe. Achtzig Prozent der Performance sind nicht anlasslos – wenn auch ansatzlos. Ein Fehlverhalten, das sich in Gegenwart des Hundes vorzukommen erlaubt, braucht eine Antwort. Der Hund bellt noch ein Achtel lustvoller, als wenn er einfach so bellen muss, weil man ihm den Anlass verweigert. Beispiel: Ein fremder Hund, der die Straße daherläuft und unter dem Balkon des Nachbarhundes die Frechheit des Bellens hat. Das macht der nicht noch mal! Beziehungsweise das macht der noch ganz viele Male hintereinander, weil er jedes Mal, dass der Nachbarhund sein „Schluss jetzt!“ bellt, sein „Nee, noch nicht!“ dahintersetzen muss. Und trotzdem ist irgendwann Schluss. Denn der Fremde muss weiter und der Nachbarhund nicht, der wohnt hier. Der kann länger. Der hat immer das letzte Wau. Und das wars doch, was er von Anfang an sagen wollte Herrgott. Hätts der Fremdköter mal nach dem ersten Wauwechsel eingesehen. Oder die Katze steht nachts vor unserem Haus und will rein, warum auch immer. Sie macht ein weinerliches Geschrei, das hat sie von den Babys und Kleinkindern in der Straße gelernt. Es wirkt. Ich will sie sofort reinlassen, bin aber zu müde aufzustehen und warte erst mal, was der Hund sagt. Er bellt. Mitten in der Nacht hat keine Katze Lärm zu machen. Das lernt sie einmal. Zweimal. Dreimal. Die Katze gibt auf. Ehrlich, so dringend kanns doch dann nicht gewesen sein. Bleibt sie eben draußen. Brauchen wir nicht alle diese Momente, wo unseren Ansprüchen mal Grenzen gesetzt werden? Ich mag in diesem Moment den Nachbarhund. Genüsslich drehe ich mich im Bett um und vergesse die Schreie der eingesperrten Anti-Lithium-Protestler, ääh der Katze, als hätte es sie nie gegeben. Das Leben kann so einfach sein.

Als mich gegen Morgen ein Hustenreiz packt, drücke ich meinen Kopf ins Kissen. So ein Husten, frei rausgelassen, kann als Geräusch verwechselt werden. Ich will keinen Ärger. Ich muss Dominanz nicht herausfordern. Ich bin der Nachbar. Ich akzeptiere meine Grenzen.

Der Name des hiesigen Staatspräsidenten ist übrigens dem Geräusch, das der Nachbarhund macht, nicht unähnlich. Er kommt kraftvoll aus den Tiefen der Manneskehle. Und bricht dann ab wie die Stimme eines Jungen im Stimmbruch. Oder wie ein Klaps, den die Ehefrau dem Mann auf das dauerredende Mundwerk gibt. Zwischen den Fingern witscht noch etwas Luft durch. Dann ist Ruhe im Hause Vučić.

Was zusammenhält

Was ist Kultur? Die von Herder und Hegel bis Derrida und Eribon oft gestellte, ebenso oft verkomplizierte Frage beantwortet sich einfach: Kultur ist, was Sommerpause macht – minus Politik. Die Wahrheitsdrohne weiß das, ist pünktlich weggeflogen. Was bleibt mir als ihr nachzureisen? Ins 2024 zum dritten Mal in Folge und überhaupt mit Abstand am häufigsten als „lebenswerteste Stadt der Welt“ vom britischen Economist ausgezeichnete Wien geht es. Ich will wissen: Wer oder was macht Wien so lebenswert?

Am Abend meines Ankunftstags besuche ich die nächstgelegene Grünfläche: den Rathauspark. Operngesang erfüllt ihn. Wie das? frage ich einen Mann, neben dem auf der Parkbank zwei Rucksäcke stehen – ein Durchreisender. Ich frage erst, als er seinen von der Hochkulturkonkurrenz ungerührten Mundharmonikavortrag erstmals unterbricht. Open-Air-Kino sei das, nicht live. Das muss ich mir anschauen. Hinter der nächsten Baumgruppe sehe ich die Leinwand, davor Hunderte Kinder, Eltern, Hunde. Einträchtig und kostenlos genießt man, was sich am Originalschauplatz keiner leisten könnte. Die Stadt bezahlt, Abend für Abend. Was ich erst am nächsten Morgen erfahren werde: Gleichzeitig läuft am Karlsplatz, fünfzehn Fußminuten entfernt, das nächste Umsonst-und-Draußen-Spektakel: Wiens Popfest. Vier Seiten im Falter, der ‚Zeitung Sprizz‘, umfasst das Line-Up, vier Tage und Nächte Halligalli, bezahlt hauptsächlich von der Stadt. Wäre ich einen Tag früher angereist, hätte ich Nino aus Wien gehört – ein Traum. Die Wirklichkeit: Am nächsten Tag gehe ich wieder in den Rathauspark mit dem Plan, hernach das Popfest heimzusuchen. Es kommt anders. Von der Leinwand und der stadiontauglichen PA dröhnt ein volles Coldplay-Livekonzert und danach geht die Party an den umliegenden Bier- und Würstlständen erst so richtig los. Wunschlos schwänze ich das Popfest.

Was man zwischendurch mal muss, geht in Wien unfassbar einfach. Überall gibt es öffentliche WCs. Und die verstecken sich nicht (wie in den Einkaufszentren von Frankfurt, das sonst gar keine hat), sondern stellen an den Straßenecken Schilder auf, die zu ihnen hinführen. Wiederauffüllen kann man sich an den unzähligen Brunnen und Trinksäulen. Die tropischen Augustnächte und -tage lang versprühen Masten auf Knopfdruck frisches Aerosol. Das Ruhedürfnis stillen flächendeckend Bänke und Einzelstuhlpaare. Extrabreit sind die und nicht volkspädagogisch abgeschrägt wie in Frankfurt: damit man keine Bierflasche draufstellen kann. Einträchtig steht die Gastronomiebestuhlung neben der öffentlichen an der Gasse – soll doch jede/r selbst entscheiden, wo er oder sie sitzt. Man ist hier so gut zu mir! Und „man“ heißt ein ums andere Mal: die Gemeinde Wien.

 

Herumgesprochen dürfte sich haben, was die für das Wohnbedürfnis tut, schon seit über hundert Jahren. Klafft in der atemberaubenden k.u.k. Zuckerbäckerbebauung eine Lücke, die von einem unansehnlichen Behelfsbau gefüllt wird, dann schämt man sich für den nicht, sondern schreibt in fetten roten Lettern drauf: „Wohnhausanlage der Gemeinde Wien, erbaut in den Jahren xy“. Wie ein Mantra grüßt der Spruch den Straßenbahn Fahrenden vielhundert Mal. Die große Zeit des öffentlichen Wohnungsbaus kam nach dem Ersten Weltkrieg, als fortschrittliche Architekten und Verwaltungen den Bedarf arbeitender Menschen zum Maßstab machten, ganze Stadtviertel ein modernes Aussehen annahmen und dabei mit Kindergärten, Gemeinschaftshäusern, Grünflächen und Kunst am Bau vielfältigen Bedürfnissen nachkamen. Frankfurt war damals Wiens Schwesterstadt in der Architekturrevolution. Die oberbürgerlichen Meisterspekulanten der letzten Jahrzehnte, gern SPD, traten das in die Tonne namens Vergessenheit.

 

Ich fahre mit der U4 zur Endhalte Heiligenstadt, stehe vor dem Karl-Marx-Hof, der berühmtesten Wohnanlage des „roten Wien“. Mein Stadtführer zeigt mir das Bild einer reliefierten Keramikfigur und nennt sie „der Sämann“. Ich frage mich zu der Figur durch und stutze: Die Figur sät nichts, sieht auch nicht aus, als besäße sie das Nötige. Die Hände greifen dahin, wo Hosentaschen wären, hätte die Figur genug an, woran Taschen zu befestigen wären. Bettelarm ist der Mann. Seine Hände machen die Geste der Armut: Sie drehen leere Hosentaschen um. Nein, der richtige Sämann steht dreißig Meter weiter vor dem Haus, ist eine Bronce und wurde 1920 von Otto Hofner geschaffen. Ein hübscher, durchtrainierter Bursche, erinnert von fern an Michelangelos David, womit das Tuch, aus dem er sät, auch ein Beutel sein könnte, in dem Steine warten würden darauf, auf gepanzerte Gegner geschleudert zu werden. Der kecke, freistehende Säman erntet zehn Jahre später vom vorerwähnten Keramiknachbarn an der Hausfassade Widerspruch. Josef Franz Riedels Figur von 1930 heißt zwar „Befreiung“, was insofern stimmt, als die Eisenringe um den Hals und um die Handgelenke nicht mehr durch eine Eisenkette verbunden sind. Das wars dann aber auch mit der Freiheit. Bettelarm ist der Mensch und die Stigmata seiner Sklaverei trägt er weiter mit sich herum.

Wenige Jahre später, im Februar 1934 erlangt der Karl-Marx-Hof traurige Berühmtheit, als hier die blutigsten Auseinandersetzungen stattfinden zwischen bewaffneten Arbeitern und den Truppen der Dollfuß-Diktatur. Bundesheer und Heimwehr müssen die Wohnanlage mit Kanonen beschießen, erst dann geben Kommunisten und Republikanischer Schutzbund auf. Unlängst, im Juni 2024 wurde am Karl-Marx-Hof wieder geschossen. Sieben Schüsse sollen es gewesen sein, aufgeklärt ist die Sache bisher nicht. In einigen Wiener Parks kam es in letzter Zeit zu Messerstechereien zwischen ethnisch diversen Gruppen von Jugendlichen, um Fragen der ethnischen Zugehörigkeit. Dahinter wuchern Ängste vor Entrechtung, falls Österreich mit den Nationalratswahlen im September nach rechts umkippen sollte. Die Regierungen des Bundes und der Länder haben gemeinsam die Versorgungsstandards für Flüchtlinge gesenkt. Wien macht da nicht mit, zahlt weiter wie bisher. Ob all die Wohltaten für den Stadtsäckel denn bezahlbar seien, frage ich beim Wein den studierten und berufserfahrenen Betriebswirt, dessen Gast ich bin. Wenn es den Zusammenhalt der Menschen fördere, sei das Geld bestens angelegt, meint der.

Ich erlebe ihn hier ständig, diesen Zusammenhalt. An der Supermarktkasse begrüßt die Kundin vor mir die Kassiererin mit „Junge Frau, ich krieg es billiger“. Sie klebt zwei kleine Marken auf Waren aus ihrem Einkauf. „25% Rabatt“ steht drauf. Dann dreht sie sich zu mir um. „Und der junge Herr auch“, sagt sie und versieht drei meiner fünf Artikel mit ihren Märkchen – zielsicher die teuersten.

Rotkäppchen und der braune Wolf

Denke ich an die neueren, längst nicht mehr neuen Wahlergebnisse in Europa, packt mich das Grauen. Rechts außen braucht es keine Argumente, kein bürgerliches Mäntelchen und nicht mal den Mindestleumund der Gesetzestreue mehr – die werden immer gewählt. Der Gedanke beschleicht mich, die bürgerliche Mitte könnte schon so schwach sein, dass ich ihr etwas Gutes tun muss. Sie wählen zum Beispiel. Um das noch Schlimmere zu verhindern. Von der Weimarer Republik erzählt man sich, sie sei untergegangen, weil die Mittelparteien nicht mehr gewählt wurden. Daran ist ein Haken, den ich in einer Koproduktion mit den Gebrüdern Grimm zu bezeichnen hoffe.

Reden wir über Rotkäppchen, das liebe Arbeitermädchen, das alle gernhatten und das solidarisch handelte mit den Schwachen. Wie der Name sagt, die Kappe zeigt und die Einstellung beweist: Rotkäppchen war links. Als nun das liebe Rotkäppchen erfuhr, dass es seiner bürgerlich-parlamentarischen Großmutter schlecht gehe, wollte es nicht säumen sie zu besuchen und ihr zu bringen, was die Gesundheit der betagten Frau wiederherstellen konnte. Kuchen und Wein, so viel ein proletarischer Haushalt davon hergibt, packte die Mutter in Rotkäppchens Korb. Aber Rotkäppchen wusste, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch etwas Schönes braucht. Darum ging es bewusst vom Weg ab, als es die hübschen Blumen auf der Wiese sah, brauchte dafür nicht den Ratschlag des durchtriebenen Wolfs, sondern nur Augen im Kopf und, zum Pflücken, Hände an den Handgelenken, proletarische Grundausstattung. Schon hatte es beisammen, was die bürgerliche Großmutter gernhatte und von ihren arbeitenden Kindern und Enkeln auch pünktlich einforderte.

Dem bösen Wolf ist Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter also gar nicht begegnet, behaupte ich (auch wenn der Grimm der Gebrüder mich von hier an verfolgt). Sie hat zwar von ihm gehört, weiß, dass er gerne Menschen frisst und da angeblich nicht wählerisch ist, alte Damen genauso mag wie Mädchen mit rotem Barett. Aber das sind Medienberichte. Man weiß nicht, was dran ist. „Warum sich um sowas einen Kopp machen?“ denkt Rotkäppchen, geht frohgemut zum Haus der Großmutter – einer stattlichen Villa mit Garten, der alles trägt, was Rotkäppchens Familie gern hätte – und klingelt. Nach der Gesichtserkennung durch die Sprechanlage und einer partiellen Deaktivierung der Alarmanlage tritt Rotkäppchen ein, geht zum Schlafzimmer der Großmutter und macht erst mal ein Kompliment: „Oma, du siehst aus wie immer.“ Dann erkundigt es sich nach dem Ergehen. Oh, ganz schlecht sei das, heißt es. Auf Lebensmittellieferungen und Blumensträuße müsse die Großmutter immer länger warten. Der Egoismus der Produzierenden nehme krass zu, andauernd streiken würden die. Neuerdings gebe es sogar Lieferkettengesetze und Pflanzenschutzauflagen, als ob Steuerlast und Bürokratie für ihresgleichen nicht schon lebensbedrohlich genug wären. Das Land „Euer Opa“ sei nicht mehr wettbewerbsfähig und sie, „euer aller Oma“, lasse sich nicht länger von selbstsüchtigen Nachfolgegenerationen auf der Nase herumtanzen. Andere Saiten würden jetzt aufgezogen, schreit die Großmutter und rasselt dazu mit einem Schlüsselbund, das Rotkäppchen noch nicht kennt.

„Hier sind Kuchen und Wein“, versucht es Rotkäppchen, „und da ein hübscher Blumenstrauß.“

„Zu spät“, schnauzt die Großmutter, wobei rechts und links in ihrem Maul stattliche Reißzähne aufblitzen. „Komm mal mit, Kleines“, sagt die angeblich Kranke, springt aus dem Bett und zieht Rotkäppchen hinter sich her durch Haus und Garten zu dem Tor eines weitläufigen Zwingers, in dem Rotkäppchen sogleich den Wolf erblickt. Er ist braun, was Rotkäppchen irritiert, sieht sonst aber aus wie im Schulbuch. Die Großmutter steckt mit der Rechten den Schlüssel ins Torschloss und reckt den Zeigefinger der Linken hoch in den Himmel. „Das habt ihr nun von eurer Frechheit. Mit diesem Wolf gemeinsam habe ich in Thüringen schon einen Ministerpräsidenten gewählt und Grunderwerbssteuern gesenkt. Den lasse ich jetzt raus und in mein Schlafzimmer. Das heißt, zu allererst lass ihn dich zu Rote Grütze pürieren und wegputzen.“

Rotkäppchen streckt ihrerseits einen Zeigefinger in die Höhe. Er zittert. Reflexartig nimmt die Großmutter ihr Enkelkind dran: „Ja, Rotkäppchen?“ Das Kind gibt alles, was es in der Schule gelernt hat, auch rhetorisch: „Großmutter, wenn du das machst, frisst der braune Wolf uns beide, das hat er nämlich schon ganz oft gesagt.“

„Pech, Grünschnabel, dass du es geglaubt hast“, sagt die Großmutter. „Der Wolf da frisst keine Inhaberin einer Bankkarte, deren PIN er nicht kennt. Uns mag er nicht, aber unser Geld. Und wenn wir ihm zeigen, wie er drankommt, mag es uns auch irgendwie.“ Damit öffnet die Großmutter das Zwingertor. Rotkäppchen fragt sich, ob der Wolf es lange neben der Großmutter in deren Bett aushalten wird. Es ist Rotkäppchens letzter Gedanke.

Moral aus der Historie: Wenn die Mitte bereitsteht dafür, die extreme Rechte an die Macht zu bringen, ist die Mitte kein Schutz, sondern die akute Hauptgefahr.

Moral-PS: Von links mit der Mitte koalieren kann helfen – so lange kommt Rechts nicht dran.

Moral-PPS: Die angeblich rechten 16- bis 24jährigen Deutschen haben bei der Europawahl genauso viel AFD gewählt wie der Durchschnitt – aber nur gut halb so viel CDU!

Paragraphenblüte

Die Wahrheitsdrohne überfliegt Deutschland und sendet historische Bilder: blühende Landschaften, soweit das Kameraauge reicht. Osten und Westen bedeckt von sattem Grün. Doch was wächst da, was blüht? Kohl scheint es nicht zu sein. Die Drohne zoomt sich ran und wechselt in den Tiefflug, um Rauchschwaden zu durchdringen, die von Deutschland aufsteigen. Letzter Zweifel verfliegt: Es ist Cannabis.

Flächendeckend stehen die übermenschlich großen Pflanzen in Dreiergrüppchen zusammen und verströmen ihr einst gefürchtetes Aroma. In jeder Pflanzengruppe steht ein über achtzehnjähriger Mensch mit dauerndem Aufenthalt in Deutschland und gießt seine drei legalen Lieblinge. In Vorgärten und Hinterhöfen, auf Balkonen und Dächern, überall da grünt es legal, wo Erwachsene wohnen und ihre Pflanzen gegen die Begehrlichkeit von Jugendlichen gesichert haben. Die dürfen nämlich nichts, wie üblich. Betritt ein erwachsener Mensch seine Wohnung, dann liegen da noch mal fünfundzwanzig Gramm Marihuana für ihn bereit – eine Menge, mit der sich für einen Monat der Zustand des Cleanseins weitgehend vermeiden lässt.

Doch den blühenden Landschaften naht ein Problem. Erntezeit bei Cannabis ist die Blütezeit. Geerntet wird die mit Harz gefüllte Blüte. Was macht nun der gesetzestreue Besitzer dreier Hanfpflanzen, die jede ihre zweihundert Gramm Marihuana abwirft, wenn die Ernte eingefahren ist? Teilen mit anderen darf er nicht. Verkaufen schon gar nicht. Besitzen auch nicht. Vernichten dürfte er den Überschuss, aber bleiben wir realistisch. Deutschland ist in dem besonderen Jahr ein Volk von Bauern geworden. Im August, zur Erntezeit, lodern nicht überall im Land die Hanffeuer, no way. Was der Bauer hat, das raucht er. Und zwar so schnell wie möglich, damit nicht allzu viele illegale Weckgläser voll des Räucherwerks in der Wohnung herumstehen. Sommerurlaub mal anders: Das Auto bleibt da, der Körper auch. Der Geist ist dann mal weg für sechs bis acht Wochen.

Nehmen wir, ebenso realistischerweise, an, die Polizei hackt sich ins Bordsystem der Wahrheitsdrohne und guckt „Deutschland von oben“, die Augustfolge. Was sehen die schreckensgeweiteten Beamtenaugen? Überall Pflanzengrüppchen wild im Gelände, in Parks, auf Brachland und, besonders auffällig, auf Brücken! Das geht doch nicht! denkt der sagen wir mal bayerische Einsatzleiter, rückt aus zur nächsten Brücke und stellt die Personen, die er antrifft, zur Rede. Doch doch, das gehe, antwortet man ihm frech. Die Brücke sei Wohnsitz im Sinne des Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis. Glaubt der Beamte nicht? Dann lernt er jetzt die Gesetzesdefinition. „Wohnsitz:  der Ort, an dem eine Person eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass sie die Wohnung beibehalten und benutzen wird“. Die genannten „Umstände“ würden sich ja wohl nicht ändern, fügt der Obdachlose hinzu, man nenne sie Kapitalismus. Und wünscht noch einen schönen Einsatztag, wozu er den Ordnungshüter mit der Abluft eines halben Gramms Marihuana einnebelt.

Der Polizeiobermeister ist sauer, er will jetzt irgendwas verbieten oder vereiteln. Das ist aber nicht so einfach. Dem ersten Kiffer, den er in der Stadt trifft, zeigt er einen Kinderspielplatz am Ende der Straße: „Keine zweihundert Meter Abstand! Das wird teuer.“ „Zwoahundertzwoa“, antwortet der Breite und raucht gemütlich weiter. Was tun? Der Polizist fordert im Zuge der Amtshilfe einen Vermessungsingenieur an. Als der nach drei Stunden eintrifft, deutet der Polizist auf den Spielplatz und als der Ingenieur gemessen hat, steht der Konsument drei Meter weiter. „Zweihundertundeinen Meter“ betrage der Abstand, so das amtliche Messergebnis. Der Polizist ruft seinen siebzehnjährigen Sohn an und nimmt ihn mit auf Streife, wodurch jeder Ertappte automatisch „in unmittelbarer Gegenwart von Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“, ertappt worden wäre. Doch schon beim ersten schnappt der Sohn sich dessen Joint, nimmt einen Zug und atmet aus mit dem Satz: „Happy Birthday mia selba! Papa, du hast meinen Geburtstag vergessen.“ Dem verzweifelnden Kulturschützer kommt eine letzte Idee. Er fährt zum nächsten Wald, stellt sich hinter einen Baum und springt hervor, als die ersten Ex-Kriminalschwaden an ihm vorbeiziehen. „Legalisierung“, lallen die Extäter, „schon gehört davon?“ Und haben mit der Antwort nicht gerechnet: Weil Autofahren in einem Wald verboten sei, handele es sich bei einem solchen logischerweise um eine Fußgängerzone. Und in einer solchen sei zwischen sieben und zwanzig Uhr verboten, was sie somit illegal gerade getan hätten. In dem Moment läutet es acht Mal vom nahegelegenen Kirchlein. Der Beamte bricht zusammen. Man wünscht ihm allgemein noch einen entspannten Abend.

Vom Kernstück des neuen Gesetzes haben wir damit noch gar nicht gesprochen, den siebeneinhalb Seiten und neun Paragraphen über die „Anbauvereinigungen“. Zu dieser höchsten Blüte am Gesetzesstamm nur so viel: Wer es jemals schaffen sollte, sämtliche Vorgaben zur Gründung einer solchen Vereinigung zu erfüllen, die oder der hätte etwas geschaffen, das mit seiner Komplexität und Undurchschaubarkeit in direkte Konkurrenz zum deutschen Staat treten würde.

Endlich in einer Beziehung: Schweden

Heute kreist die Wahrheitsdrohne über Schweden, dem jüngsten NATO-Mitgliedsland. Alles ist anders, zweihundertzehn Jahre Neutralität sind beendet, demnächst vielleicht zweihundertzehn Jahre Frieden.

Auf jeden Fall die Pressefreiheit. Ein neues Gesetz stellt alles unter Strafe, was als Unterstützung des Terrorismus gelten kann. Bei der Definition hilft der neue Partner Türkei. Im Gegenzug erhält er schwedische Waffen nebst Unterstützung bei der „Terrorismusbekämpfung“. Dafür gibts die NATO-Mitgliedschaft für Schweden, wofür die Türkei wiederum US-Kampfflugzeuge bekommt, demnächst als Dauergäste im nordsyrischen Luftraum erwartet, den die USA offiziell überwachen. Am Boden zieht Schweden dort die Unterstützung zurück, die es zivilen Kräften erst vor knapp zwei Jahren zugesichert hatte.

Schwedisch-türkischer Honeymoon, da ist ein Blick auf den neuen Partner erlaubt. Seit drei Monaten fliegt er eine Offensive nach der anderen auf das Gebiet der Demokratischen Kräfte Syriens, kurdisch Rojava. Im November zerstörten türkische Drohnen das Gasverteilungszentrum Siwêdiyê, das einer Region mit einer Million Einwohnern Strom lieferte. Im Januar brachte ein weiterer Drohnenangriff die Stromversorgung in neun Städten und zweitausendzweihundertzweiundreißig Dörfern weitgehend zum Erliegen. „Mitten im kalten Winter“, heißt es im Kirchenlied. Schulen, Krankenhäuser, die Treibstoff- und Grundversorgung der Bevölkerung wurden angegriffen, etwa eine Mühle, die täglich eintausend Tonnen Mehl produziert hatte. Anfang Februar beschossen türkische Drohnen Zivilschutzeinheiten in Qamişlo, eben damit befasst, neu entstehende IS-Strukturen in dem mit fünfundfünfzigtausend Insassen größten Internierungslager für ehemalige IS-Kämpfer und ihre Familien auszuheben. Tage später wurde ein Rehabilitationszentrum für Kriegsversehrte in Nord- und Ostsyrien bombardiert. Dort starben Menschen, die im Kampf gegen den IS verwundet worden waren und sich auf einen Wechsel in zivile Berufe vorbereiteten. Die ständigen Luftangriffe, speziell die auf Bewacher von IS-Gefangenen, können dazu führen, dass Letztere sich massenhaft befreien, ist vor Ort zu hören. Es wäre Absicht. Die Türkei ist de facto verbündet mit dem Satanischen Staat, wie die Kopfabschneider zutreffender heißen sollten. Sie wird dabei gedeckt von einem Bündnis, das Erdogans Definitionen kritiklos übernimmt. NATO-Generalsekretär Stoltenberg  2017: „Bedenken Sie bitte, dass kein anderes NATO-Land so stark von Terroristen angegriffen (sic) wurde wie die Türkei.“

Glückwunsch, Schweden, dein Neuer ist ja richtig sympathisch! Und passt so gut zu dir. Wie, du bist liberal und er nicht? Mal langsam. Er gründet bald eine „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ (DAVA) bei dir wie in Deutschland. Die räumt mit der „Gender-Ideologie“ auf und ist offen für alle Muslime, freu dich drauf. Deine Schwedendemokraten sind Nationalisten, er auch. Deine Köttbullar heißen Köfte bei ihm und schmecken sogar. Dein Stahl findet Verwendung in seinem Wahrzeichen, dem Dönerspieß. Er trinkt gern Schnaps, aber heimlich, genau wie du mit deinem verklemmten Alkoholgesetz. Glaubst du nicht? Guck dir den Präsidenten an, die Augenringe, der Teint, der glasige Blick sagen wohl genug. Pornographie verkaufst du da besser als zu Hause, bei all den Vorhängen, Umhängen, Vorhängeschlössern an den Frauen der Notbehelf für die Machomännchen. Was in den tausend Zimmern des Präsidentenpalasts abgeht, willst du gar nicht wissen. Der Präsident weiß es selbst nicht mehr. Und komm, religiös warst du auch immer, sektenreich und verschwurbelt, wenn man deinen Dichtern von August Strindberg bis Per Olov Enquist glauben darf. Lies Orhan Pamuk und du siehst in hundert Spiegeln dein religiös-sentimentales, vor Selbstliebe aufgeplatztes Frömmlergesicht. Nein nein, mit Islam oder Christentum hat das nichts zu tun. Das ist einfach nur unangenehm.

Und wenn du noch immer zweifelst – er hat Drohnen! Lass es dir von einer Drohne sagen: Dein neuer Freund ist der größte Drohnenproduzent und -verkäufer weltweit. Seit 2021 haben fünfzehn Länder Bayraktar-TB2-Drohnen bei ihm gekauft. Ein weiteres Dutzend Länder hat bestellt und wartet. Die meisten Kunden setzen die Waffe innerhalb der eigenen Grenzen ein, gegen ihre Bevölkerung. Greif zu, vielleicht kriegst auch du mal Ärger mit den Schwed:innen, zum Beispiel wenn sie merken, was deine Aufrüstung kostet. Du fragst nach einem Beispiel für den intranationalen Einsatz von Bayraktar-Drohnen? Ich gebe dir eins: die Ukraine. Am 26. Oktober 2021, vier Monate vor dem gern „unprovoziert“ genannten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands, setzte die Ukraine erstmals eine Bayraktar TB2 gegen Stellungen im abtrünnigen Donbass ein. Honi soit qui mal y pense? Ich denke: Dein neuer NATO-Freund weiß genau, was er tut. Vom wenig später ausgebrochenen Ukrainekrieg profitiert er dreifach: als „Vermittler“, als Waffenhändler, vor allem aber mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Nordsyrien, für den die (ab)gelenkte Öffentlichkeit gerade keine Zeit und kein Interesse hat.

Friede den nordsyrischen Hütten! Friede auch dem Präsidentenpalast – wenn er nur zu der türkisch-kurdischen Aussöhnungspolitik zurückkehren wollte, die bis Juli 2015 erfolgreich von Erdogan getestet wurde.

Im Eck ich steh, ich tu ihm weh – wer bin ich?

Gleich wird es hier so persönlich, dass ich keine Zeugen gebrauchen kann. Ich muss mit dem Gegenstand meiner Auseinandersetzung allein sein, weshalb ich ihn direkt ansprechen werde. Achtung, ich spreche: Wie – frage ich dich – soll es zwischen uns weitergehen? Was für Qualen gedenkst du mir weiter zu bereiten, die ich nicht entweder schon kennen oder aber mit endgültiger Trennung von dir beantworten würde?

Ach guck mal, die Wahrheitsdrohne schwirrt ab. Ernsthafte Beziehungsarbeit ist nicht so ihr Ding, scheints.

Wo war ich stehengeblieben? Richtig: bei meinen Qualen. Bei meinen Schmerzen. Stehend vor dir als der Ursache denke ich Sachen wie: Bin das wirklich noch ich? Ich kann nämlich zwischen dir und mir nicht mehr unterscheiden, so nah sind wir uns gekommen. Du bist ein Teil von mir geworden. Du wütest in meinem Innersten. Der Schmerz, den du mir bereitest, füllt mich aus wie das Bier das Glas. Man sagt „Glas“ und meint in Wirklichkeit Bier, das sich in einem Glas befindet. Ich betrachte mich im Spiegel und sehe in Wirklichkeit dich. Was du mir angetan hast, zeichnet sich ab in meinem Gesicht, vollständig. Oder nicht mal: Ich bräuchte zwei Gesichter – wie meine wohlhabenderen Freunde zwei Bildschirme auf ihrem Schreibtisch stehen haben – um alles anzeigen zu können, was du mir angetan hast. Die ganze Breite der Palette, mit der du den Schmerz in meine zwei Gesichter gemalt hättest.

Zwei Wochen vor Weihnachten fing es an. Ich dachte sofort über Trennung nach, wollte aber das Fest noch ein Mal mit dir erleben. Ich brauchte dich für dieses Fest, für seine dreitägigen Freuden. Und irgendwie lief es sogar. Ich dachte schon, du wolltest dich vertragen mit mir.

Aber nein. Zwei Tage nach Weihnachten ging es wieder los. Ich schluckte Tabletten und Alkohol durcheinander, um zu verarbeiten, was du mir neuerlich antatest. Und ich schluckte die Einsicht, ärztliche Hilfe zu benötigen. Im weiten Rund unserer gemeinsamen Heimat telefonierte ich nach Beistand. Alle waren im Urlaub und verwiesen auf Vertretungen in Bundesländern, die ich noch nie bereist habe. No way. Wir würden zusammen ins neue Jahr gehen, soviel war klar. Unberaten und ohne ärztliche Aufsicht würden wir über die Zukunft unserer Beziehung entscheiden, glaubte ich.

Dann überschlugen sich die Verwicklungen. Den Jahresanfang hindurch telefonierte ich ganztägig mit Fachärzten. Ihr Urlaub war verlängert worden. Als der Telefonseelsorge die Ratschläge ausgingen, suchte ich einen Notdienst auf. Der jugendliche Arzt riet zu einer analytisch bohrenden Paartherapie. Ich flüchtete mich in einen zwei Wochen späteren Termin bei einem Niedergelassenen. Der war noch jünger und empfahl die Trennung. Liegend auf seiner Couch traf mich der Schlag. Ich argumentierte mit der besonderen, unverzichtbaren Stellung, die du in meinem Innern einnehmest. Verlöre ich dich, werde dort alles zusammenbrechen, weissagte ich und entkam dem Weißkittel mit letzter Entschlusskraft. „Ich kann nicht ohne ihn leben!“, rief ich durch den Spalt der zufallenden Praxistür.

Jetzt ist es raus. Es geht nicht um meine Frau. Du, Schmerzgebärender, stehst mir näher als sie, begleitest mich auch schon Jahrzehnte länger. Schwul bin ich allerdings auch nicht geworden. Es ist alles komplizierter. Du seiest in Wahrheit schon abgestorben, hatte der Niedergelassene gesagt, werdest mir so jedoch noch gründlicher wehtun als zu Lebzeiten.

Ich weiß nicht, ob es stimmt. Ich spüre nur noch einen unbestimmten, fast nostalgischen Schmerz, wenn ich an dich denke. Auch frage ich mich, ob ein so junger Arzt die Probleme einer so langen Beziehung überhaupt versteht. Er geht doch von frisch Verliebten aus, die schmerzfrei zusammenarbeiten – weil es das ist, was er kennt. Solche Ansprüche stelle ich aber nicht. Ich stehe zu dir mit all deinen Mängeln und Beschädigungen. Selbst dein Tod nimmt dir nichts von deiner Bedeutung für mich, wenn du nur bitte, bitte weiter mein Essen kleinmachst. Ich putze und pflege dich liebevoller als in deinen strahlenden Jugendjahren – und du zahlst mit Verweigerung und heimsuchendem Schmerz zurück?? Die Wut, die ich so langsam auf dich habe, wird mir helfen müssen mich von dir zu trennen.

Wenn ich Francoise Rosay ein dentistisches Bonmot in ihrem hübschen Mund umdrehen darf: Zähne sind wie Frauen. Es dauert lange, bis man sie bekommt. Und wenn man sie hat, tun sie einem weh. Und wenn sie nicht mehr da sind, hinterlassen sie eine Lücke. Eigener Zusatz: Die größte Lücke hinterlassen die, die immer (still) in der Ecke standen.

Schuster, bleib bei unseren Flügeln

Es begab sich aber zur Weihnachtszeit, dass ich gen Frankfurt-Sachsenhausen radelte, um ein Geschenk zu kaufen. Kein Weihnachtsgeschenk, sondern ein Bild für eine der vielen Wände der Wohnung, die sich ein Freund gerade gekauft hat. Auf der Fechenheimer Fahrradbrücke erreichte mich der Anruf einer jungen Autorenkollegin, die ich in Sachsenhausen treffen wollte. Sie sei gerade in Fechenheim. Also verabredeten wir uns in einer kleinen Cafè-Galerie dortselbst.

Die Inhaberin hatte mich vor vielen Jahren zu einer Lesung eingeladen, seitdem nicht mehr gesehen. Nun wollte sie wissen, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen sei. Ich weiß nicht, warum ich nach drei Sätzen bei einem Thema war, das die Dreiviertelstunde, die wir auf meine Kollegin warteten, vollständig ausfüllte. Es war das Thema des schreibenden Verlegers. Ja, berichtete ich wahrheitsgemäß, der Verleger, bei dem ich vor Jahren rauskam, schreibt jetzt. Also selber. Ja genau, Bücher. Ja wie ich das denn fände. Ich weiß nicht, ob die Galeristin überhaupt dazu kam, es mich zu fragen, so schnell antwortet ich: Na ja nee!! Also nicht so. Das heißt … ja ja, doch doch! … Das Schlimmste ist nämlich: Er schreibt gut. Eigentlich in Ordnung also, oder was heißt in Ordnung, unbedingt notwendig, dass seine Sachen erscheinen, dass sie dann auch gekauft, gelesen, geliebt werden. Ja doch.

Und ich? Und wir, seine Autorinnen und Autoren? Was wird aus uns?

Immerhin: Im Unterschied zu manch anderem verlegt der Verleger seine Werke nicht selbst, sondern bietet sie Kolleg:innen an. Und die drucken sie aus dem einfachen Grund, dass sie gut sind. (Habe ich „leider“ gesagt?) Insofern trennt er die zwei Herzen in seiner Brust sauber. Dann kommt allerdings Jesus und guckt genauer hin: „Wo dein Schatz ist, da wird dein Herz sein.“ Welches der zwei Herzen schlägt? Ich weiß nur das: Mein letztes Buch bei dem Verleger hatte genau eine Lesung, die der Verlag für mich arrangiert hat. Im selben Jahr hatte der Verleger mit seiner eigenen Neuerscheinung zwanzig Lesungen. Nein, die hat nicht sein Verlag für ihn arrangiert. Und ja, ich hatte zehn Lesungen mehr als er. Aber bei der Hälfte war es eine lange, lästige Stange Arbeit für mich, sie zu verabreden. Das nächste Buch habe ich dann in einem anderen Verlag rausgebracht.

„Weil da zwei Kolleginnen hartnäckig für dich geworben haben“, plärrt die Wahrheitsdrohne dazwischen. Sie hat Recht. Das ist die Hauptnachricht dieser Glosse. Sowas tun Autorinnen auch (gendern will ich hier nicht, Goethe hat Recht: Frauen sind die besseren Menschen): selbstlos helfen. Und das, obwohl, wie ich bald erfuhr, die Guten und ich plus zweihundert Weitere das bekannte Problem haben: Auch dieser Verleger schreibt. Schon viel länger als ich veröffentlicht er Literatur. Und muss ich es noch hinschreiben? Es war ja so klar. Es konnte ja nicht anders kommen: Seine Sachen sind gut. An der Stelle ungefähr kam die junge Kollegin zur Tür reingestolpert, fiel auf einen Stuhl, klappte vor mir ihren Laptop auf und sagte, während sie in aller Ruhe aus dem Mantel kroch: „Hier, lies das mal. Hab ich heute geschrieben. Aber lies es genau. Ich glaub, ich hab noch nie was so Gutes wie das geschrieben.“

Und wieder stimmte es. Nachdem ich drei Seiten gelesen hatte, hatte ich allerdings eine Vision und tat nur noch so, als ob ich weiterläse. Vor meinem inneren Auge stand ein nicht endendes Schuhregal, in dem lauter geflügelte Schuhe standen. Ein selbstloser Mensch hatte diese Schuhe für uns, seine Autor:innen, angefertigt, damit unsere Literatur sich in alle Winde verbreitete. Ich war so gerührt, dass ich kaum aufwachte von der Frage, die die Kollegin mir schon dreimal gestellt hatte: „Sag mal, könntest du bei deinem Verleger anfragen, ob er das Buch vielleicht machen will?“ „Ich weiß nicht“, antwortete ich, „ob das der richtige Platz wäre. Da sind schon so viele Autoren … Und dein Manuskript hat das Potenzial für einen großen Publikumsverlag, wirklich. Also ich an deiner Stelle …“ „Schon gut, war ja nur ne Frage“, lenkte die Jungautorin ein und ich hatte ein schlechtes Gewissen. „Aber du hattest auch ein Bisschen Recht“, schnattert die Wahrheitsdrohne plötzlich. Dass die mal was zu meinen Gunsten sagt!

Ich tat, was schlechte Menschen tun, wenn sie nicht weiterwissen. Ich lenkte ab, mit einem Hinweis auf die Bilder, die an den Wänden der Galerie hingen. Nach ein paar Höflichkeiten fiel mir ein, dass ich auf der Suche nach einem Bild war. Aber bitte keins von denen, wusste ich. Da bemerkte ich eine kleine Arbeit, die in der hintersten Ecke des Raums auf einem Bücherbord lehnte und, wie ich bei Annäherung sah, schon eine Weile vor sich hin staubte. Sie gefiel mir auf Anhieb. „Ach das“, sagte die Galeristin. „Das ist von mir.“

Ich handelte den Preis geringfügig runter und kaufte das Werk einer Galeristin, deren Ausstellung von in Öl gemalten Porträts mich und die Galeristin, während ich mich verabschiedete, aus einem Dutzend Augenpaaren hasserfüllt anstarrte.

gedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 21.12.2023

Wenn einer Reisen tut

Hochmut kommt vor dem Fall. „Du bist doch gar nicht gefallen“, schnurrt die Wahrheitsdrohne. Kinder und Drohnen sind üble Rechthaber. Was ich sagen will: Ich war immer so stolz darauf, sämtliche Fahrradstürze selbst gebaut zu haben, ohne die Mithilfe all jener Kraftfahrer (alle männlich, gendern wäre hier lügen), die schon versucht haben mich mit ihren Kraftfahrzeugen zu töten.

Jetzt hats einer geschafft. Also mich angefahren, ich lebe ja noch (Tote schreiben keine Kolumnen). Jetzt ist es aus mit dem Stolz und der dazugehörigen Sicherheit, in der ich mich gewogen habe. Autos können auch anders. Nicht nur fahren, als ob es keine Radfahrer gäbe, und zynisch recht behalten damit, weil der Radfahrer am Ende doch nicht tot ist, obwohl das Auto alles getan hat dafür. Sondern genauso fahren und am Ende auch treffen.

Ja, es war dunkel. Ja ich hatte einen dunklen Mantel an. Der Zebrastreifen, an dem es geschah, war aber in grelles Licht getaucht. Und ich befand mich, ehe es geschah, mit meinem Fahrrad längst auf dem Zebrastreifen. Also nicht das Spiel ‚wer zuerst drauf ist‘, das ich auch schon gespielt habe, zugegeben. Nein, ich bin drauf, beinahe schon drüber und merke plötzlich: Das interessiert den Autofahrer nicht, der von links kommt. Der vermindert seine Geschwindigkeit nicht. Okay, denke ich, jetzt hast du noch genau eine Chance: scharf nach rechts, zurück an den Straßenrand. Vielleicht schafft er es noch vorbei an dir. Aber nix. Der Fahrer will nämlich rechts abbiegen und nimmt mich auch am Straßenrand auf die Hörner. Vulgo: klemmt meinen linken Fuß mitsamt Pedal zwischen Rad und Radkasten ein, schleift mich ein Stück mit und bleibt dann stehen.

„Wenn du Leute töten willst, kauf dir ein Gewehr!“, schreie ich. Was man manchmal redet. Da sind schon sinnfreie Sachen dabei. Umgefallen bin ich nicht, der Punkt geht an die Wahrheitsdrohne. Ging nicht, weil der Fuß eingeklemmt war. Mühsam zoppele ich das Pedal aus dem Radkasten, zieh den Fuß hinterher und will vorne das Kennzeichen ablesen. So einer, habe ich mir immer geschworen, kommt mir nicht unter versuchtem Totschlag davon. Das guckt sich jetzt mal die Polizei an, die Sorte ist anders nicht resozialisierbar. Aber scheiße – es ist der Dieter (Name von der Redaktion geändert), was da aus dem Auto krabbelt! „Sorry, hab disch net gesehe,“ kräht Dieter. „Sag mal, wir kennen uns doch“, sage ich. Dieter guckt eine Weile, ruft dann: „Mensch, Eddy, des gibbs doch gannet. Tut mer escht leid. Iss was passiert, samma do?“

Na ja, wie mans nimmt. Den Dieter kenne ich von zahlreichen Hoffesten in meiner Straße. Wir haben schon manche Flasche Wein zusammen geleert, manchen Vogel sein erstes Lied singen hören morgens. Wir und noch zwei, drei andere. Den Dieter zeige ich auf keinen Fall an. Dem rede ich ins Gewissen, das ja. „Du musst da mal drüber nachdenken, Dieter. Das hätte ganz anders ausgehen können eben.“ Dieter und Nachdenken sind allerdings nicht leicht in eine engere Verbindung zu bringen. „Ja scheiße. Aber ich hab disch escht net gesehe!“, ist ihm erneut wichtig zu betonen. Was genau will er mir mitteilen? Dass er andere Leute, wenn er sie sieht, absichtlich umfährt und dass ich so unbeliebt wie die bei ihm gar nicht bin? Würde mich das, falls es die Botschaft ist, in dem Moment trösten?

„Isch zahl des, gakaa Fraach“, sagt Dieter, nachdem ich testweise gemerkt habe, dass das Fahrrad nicht mehr fährt. Der Fußknöchel schmerzt. Zur Arbeit gehe ich heute nicht mehr. Zum Arzt dann auch nicht. Dem Hausarzt habe ich dummerweise erzählt, dass es ein Wegeunfall war. Damit darf er mich nicht mehr untersuchen. Den Unfallarzt müsste ich erst mal selber zahlen und die Berufsgenossenschaft lasse ich aus dem Spiel. Einmal wegen Dieter. Dann auch wegen des einzigen Arbeitsunfalls, den ich jemals gemeldet habe. Auf einer Dienstreise war der. Die Sachbearbeiterin entnahm den eineinhalb Zeilen des Unfallarztes, dass meine körperliche Fitness für Belastungen wie Reisen nicht mehr ausgereicht habe, weshalb es sich um keinen Arbeitsunfall gehandelt habe, da ich die Reise unberechtigterweise angetreten hätte. Auf der Unfallarztrechnung blieb ich sitzen. Bei dem Versuch, die Entscheidung der Sachbearbeiterin anzufechten, erfuhr ich, dass die Dame krankgeschrieben sei. Sechs Monate blieb das so. Ich gab auf.

Gut, der Dieter hätte diesmal gezahlt. Ich hatte einfach keinen Bock auf die Berufsgenossenschaft, an der ich nicht vorbeigekommen wäre, und keinen auf den Ärger, den der Dieter dann bekommen hätte. Er hat die Fahrradwerkstatt bezahlt. Das reicht: Wir haben ihm schön was aufgeschrieben.

Karlsbader Klartext

Kaum jemand ahnt, was für ein trauriges Nachleben berühmte Dichter führen. Zwar stehen an vielen Orten Denkmäler von ihnen, aber welcher Mensch, der heute vorübergeht, weiß noch, wen er da vor sich hat? Endgültig qualvoll wird die Situation der Geistesheroen dadurch, dass sie, was kaum bekannt ist, in einem ihrer Denkmäler jeweils inkarnieren, sodass sie an dem betreffenden Ort persönlich mitkriegen, was die Nachgeborenen über sie reden. Bei Goethe ist es Karlsbad beziehungsweise die Büste am Ortsausgang, zweihundert Meter hinter dem Grandhotel Pupp. Herausfinden kann sowas nur die Wahrheitsdrohne, die auf ihrem Vorbeiflug an dem Denkmal blitzartig von einem Gedanken Goethes getroffen wurde.

„Deine läppischen vier Windrädchen hau ich dir ab und versklav dich als Buchstütze, du Fluggerippe!“

Stopp. Die Drohne legt den Rückwärtsgang ein und begibt sich direkt unter die himmelwärts verdrehten Dichteraugen. „Bitte was? Würden Sie das noch mal wiederholen?“

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„Ach, wie heiß es heute wieder ist, erlaubte ich mir zu bemerken“, schwindelt der Großgeist, ohne rot zu werden. „Na, Sie haben ja Ihre vier Ventilatoren dabei.“

„Und Sie haben das schattige Waldplätzchen. Vom hohen Sockel gejammert nenn ich das.“

„Rühren Sie nicht in der Wunde“, greint der Große weiter. „Ein Plätzchen fürwahr, um von der Welt vergessen zu werden. Schiller, zweihundert Meter weiter, hat einen Altar, auf dem man drei Ochsen braten könnte. Sechzehn Mal war ich in Böhmen, der Kerl kein Drittel so oft – ist das gerecht?“

„Dafür steht er für den erotischsten Moment der neueren deutschen Filmgeschichte, als Theresa Weißbach Matthias Schweighöfer fragt: ‚Und, Herr Schiller, wann kommen Sie wieder in die böhmischen Wälder?‘ (‚Schiller‘, D 2005) Sorry, Herr Geheimrat, sowas wie ‚Die Räuber‘ wirkt auf Frauen doch stärker als Ihre Marienbader Elegie.“

„Dem Beethoven, dem Flegel, haben Sie gleich den ganzen Waldrand gegeben. Wenn das der Kaiser wüsste.“

Die Drohne will auch mal was Nettes sagen: „Da steht er doch nur, weil er mit Bäumen besser kann als mit Menschen. Erinnern Sie sich noch, 1812? Als Sie beide sich erstmals begegneten in Teplitz, hier um die Ecke, und plötzlich der Kaiser auftauchte? Sie sofort beiseite und den Katzbuckel gemacht. Und Beethoven wie ein Panzer mitten durch das Gefolge – der Kaiser grad noch weggehechtet, sonst hätt der Irre ihn umgewalzt. So einen kannst du nur in den Wald stellen.“

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„Mein Wohnhaus an der Promenade nennt sich ‚Hotel Mozart‘, obwohl der Leichtmatrose da nie einen Fuß reingesetzt hat. Auf dem Nachbarhaus steht: ‚Goethe‘s Beerhouse‘. Dabei hab ich weder Bier getrunken noch Tabak geraucht hier. Brav jeden Morgen meine sechs Becher warmes Wasser getrunken hab ich und zwei Mal die Woche heilgebadet.“

„Und was war mit den Mädels? Mit der Ulrike zum Beispiel?“

„Ach, das geht doch keinen was an.“

„Genau das ist Ihr Fehler. Wortreich ausgeschwiegen haben Sie sich über Karlsbad.“ Die Drohne fliegt seitwärts zu einer Tafel und liest Goethe vor, was er geschrieben hat:

 

Was ich dort gelebt, genossen,

Was mir all dorther entsprossen,

Welche Freude, welche Kenntnis,

Wär ein allzulang Geständnis!

Mög‘ es jeden so erfreuen,

die Erfahrenen, die Neuen!

 

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„Aber was war es?? Keinerlei Auskunft geben Sie! Der Fontane in seinem Bad Kissingen war da genauer. Mit den drei Heilquellen fängt er an, aber dann kommt Klartext:“

 

Max, Rakoczy und Pandur

Thun immer die Hälfte nur.

Andere Sprossen auf der Leiter

Führen auf dem Heilsweg weiter:

Lindesmühle, Bodenlaube,

Unentwegter Saalwein-Glaube

Und das fränkische freundliche Wesen

Fügt den Schlußstein zum Genesen.

 

„Die Wirtshäuser mit Namen, das bevorzugte Getränk, erwiesene Freundlichkeiten … darunter kann man sich was vorstellen! Weswegen der Mann heute nicht auf einem Sockel herumsteht, sondern jedes Jahr zum Rakoczy-Umzug als lebendiger Grüßtheodor zweispännig durch die Stadt fährt und die Huldigungen der Bad Kissinger:innen entgegennimmt.“

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„Sind Sie bald fertig mit Ihren Demütigungen?“

„Gleich. Mein Besitzer ist auch Dichter. Der wurde vom heilkräftigen Karlsbader Wasser viel üppiger gesegnet als Sie. Ist morgens aufgewacht in seinem Appartement, schlaftrunken Richtung Bad getappt und – komisch – zwei Zimmer vorher schon bis zu den Knöcheln im Wasser gestanden. Hat die Augen aufgerissen: Aus der Küche kams gesprudelt, von unter der Spüle, seit vielen Stunden bereits, wie anzunehmen ist. Nachdem er den Haupthahn gefunden und zugedreht hat, war Ruhe. Und bis der Host in der Tür stand (zusammen mit der Nachbarin, deren Wohnung durch die Wand ebenfalls vollgelaufen war), hatte mein Gebieter schon eine Stunde das Wasser in einen Eimer geschippt und ins Klo, den Rest aufgeschrubbert, -gewischt, getrocknet. Nicht ohne als erstes ein Foto gemacht zu haben.

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Dann wurde im ganzen Haus das Wasser abgestellt. Der Mann musste ungeduscht und unverrichteter Morgengeschäfte raus in die pinkelfeine Stadt. ‚No water, no money‘, lautete sein Abschiedsgruß an den Host, der sich umgehend an die Reparatur machte.“

„Ja und dann?“ Goethe nimmt Anteil. „Was macht man in einem solchen Zustand an einem der mondänsten Orte Europas?“

„Ja was? Man erlebt den ultimativen Karlsbader Wassersegen! Läuft die Promenade runter, vorbei am Pupp, an Ihnen, an Schiller und Beethoven, raus aus der Stadt, steigt runter an das noch von keiner Stadt berührte oberste Tepla-Ufer, legt ein Handtuch bereit, entkleidet sich, holt das Duschgel aus dem Rucksack und badet sich zwischen den saubersten Steinen Böhmens so rein, wie man noch nie war. Das Ganze von niemandem gesehen oder geahnt, Stunden bevor die heilgeschäftige Stadt erwachen wird, von Busch und Baum verborgen noch vor dem ersten neugierigen Karnickel des jungen Kurparkmorgens.

Goethe ist berührt. Dann arbeitet es in seinem großen Kopf. „Eine Frage hätt ich noch. Das Geschäft konnte ja ebenfalls nicht erledigt werden. Wie – – ging das aus?“

Die Drohne bedauert, dass Drohnen nicht lachen können. „Da seien Sie ganz unbesorgt. Der Weg führte, wie Sie mit Schrecken vernahmen, an Ihnen vorbei und das Schreckliche hätte, wie Sie trefflich kombinieren, Sie treffen können – hätten Sie einen geräumigeren Standplatz, hinter dem ein Notdürftiger vor den Blicken möglicher Wanderer Schutz suchen könnte. Aber den haben Sie nicht. Den hat Ihr Kollege Schiller und so zuweilen, was uns am tiefsten kränkt, zugleich sein, wenn auch verborgenes, Gutes. Hinter Schiller hinwiederum sich etwas zugetragen, von dem auch das Werk, das mein Besitzer dem Vorfall gewidmet hat, schweigt:

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Baden in der und der

 

Ein Bad in der Tepla

nimmst du liegend

auf freundlichen Steinen

und um dich rum

fließt das Wasser der Tepla

wie das Wasser der Eva

um dich rum

in ihrem Schwitzkasten

nächtlich floss.

 

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Notgemeinschaft

Meine Mutter nannte es „eine Husche“: Zehn Minuten regnet es aus allen Himmelsstockwerken, dann kommt die Sonne raus und scheint, als wäre nichts gewesen.

Grad kam so was runter. Zehn Minuten sah man das Vorderhaus nicht mehr hinter der Sturzflut. Jetzt schöpfen alle gemeinsam das Niedergeschlagene aus dem Keller. Wir drei vom Hinterhaus – meine Frau, ich und der Sohn, der uns gerade besucht – packen mit an. Bring your own device. Jeder schaukelt seine privaten Eimer, Kehrschaufeln, Schrubber und Besen für das Gemeinwohl. Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Mieter, spricht das Haus im Kaiser-Wilhelm-Slang.

Ortskundliches abstract: Wir wohnen unterhalb eines Hangs, der vollständig versiegelt ist. Das Wasser von oben läuft in dem Kanal einer Straße zusammen: unserer. Von wo aus es das Ablaufventil unseres Vorderhauskellers mitsamt dessen Fassung raus- und sich auf knapp einen Meter Höhe in den Keller reingedrückt hat.

Die Nachbarin von links oben ist in ihrem Element. Also nicht Wasser, sondern Gemeinschaft. Vor Corona feierte sie jedes Jahr um die Zeit ihren Geburtstag als Hoffest. Seit drei Jahren tobt die Miniaturausgabe davon auf ihrem Balkon. Heute, im Wasser vereint, steht endlich wieder ein Großteil der Nachbarn zusammen auf gemeinsamem Grund. Bildlich gesprochen. Im Grundbuch steht natürlich Onkel Horst, unser Vermieter, und verbittet sich die Verbrüderungsanteile an der Nachbarschaftshilfe. Egal, meine Nachbarin wird zum Faust. In Gummistiefeln „mit freiem Volk auf freiem Grund“ stehend ruft sie im Keller ein neues, postcoronales Arkadien aus:

„Im Innern hier ein paradiesisch Land,

Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,

Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,

Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.“

Unsere Kehrschaufel ist allerdings besser als ihre. Zum Wasserschippen geeigneter. Unsere gleicht einer Doppelgarage mit Stiel vor der Einfahrt. Du schippst fünf Mal und der Eimer ist voll. Bei ihrer, der Normalausführung, muss man schnell sein, damit das Wasser überhaupt mitkommt. Wir leihen ihr unsere Schippe aus. Jeder leiht jedem alles aus. Jeder trägt für jeden oder läuft, ganz wie es kommt, ohne Anweisungen. Wie im Kommunismus. Man schaut höchstens, welcher von den roten Eimern den weißen und welcher den schwarzen Henkel hat. Für später. Und dass man beim Laufen zum Gulli an keins der dreizehn Autos stößt, die auf dem Hof stehen.

Der Nachbar rechts oben ruft seinen Sohn an und der kommt helfen (er wohnt drei Häuser weiter, muss man dazusagen). Jetzt helfen sein Sohn und mein Sohn in einem Haus, in dem sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr wohnen. Der Hausmeister ist aus Bosnien und hat ein schamanisches Wissen über Gewässerbewegungen. Konzentriert hockt er über der Wasseroberfläche und beobachtet Wellen, die wir Normalmietenden nicht sehen können. Die übrigen Ausländer aus dem Haus fehlen, da sie einer Berufstätigkeit nachgehen. Es ist eine recht deutsche Angelegenheit, was sich hier abspielt. Der Nachbar rechts oben missversteht das als Einladung zu der Diagnose: Was hier neuerdings wohne, sei asozial und habe keine Ahnung von Technik. Einer von denen habe das Ventil aufgedreht und jetzt hätten wir den Salat. Dass der Hausmeister widerspricht und erklärt, wie er das Ventil samt Fassung wieder in den Schacht zurückbauen musste, liegt daran, dass er aus Bosnien kommt, denkt mein Nachbar. Die Wahrheitsdrohne verrät mir das, kurz bevor sie aus dem Keller in die Nachbarschaft ausschwärmt, um mit dem Bericht zurückzukehren: Der hydraulische Kommunismus regiert die komplette Straße.

Ich schicke das Fluggerät zu Onkel Horsts Haus nachgucken, was unser Vermieter macht. Seine Tochter, die (noch) nichts zu sagen hat, schippt mit uns, steht knietief mit Leuten im selben Wasser, deren Vermögen neben dem ihren in keinem Diagramm der Welt sichtbar zu machen wäre. Ich erzähle ihr (warum, weiß ich nicht), wie es zum Bau des Vorderhauses überhaupt kam. Fünfzig Jahre mag das her sein. Die denkmalgeschützte Scheune, die hier stand, habe der Vater, wie er mir mal erzählt hat, abgerissen am ersten Urlaubstag des damaligen Denkmalschutzbeauftragten – eines Lehrers, wie Onkel Horst mit kindlicher Heiterkeit dreimal wiederholte.

Die Wahrheitsdrohne kehrt zurück und berichtet, Onkel Horst packe für drei Wochen Sylt. Wer oder was Sylt ist, weiß er seit zwei Jahren nicht mehr, geschweige denn, wie man da hinkommt. Aber den Zweieinhalbtonner, den er auf unserem Hof parkt, um bei sich Platz zu sparen, bewegt er täglich. Fürs Autofahren braucht Onkel Horst keinen Tauglichkeitstest wie für seine Cessna, die seit einigen Jahren am Boden bleiben muss. Ich frage die Wahrheitsdrohne: Wenn Onkel Horst in seinen SUV steigt und die Tür zumacht, wo ist er dann – seiner Meinung nach? Die Drohne weiß es nicht. Demenz schlägt künstliche Intelligenz.

Wir Wärmetauscher

Schon wieder mag ich eine Sache, die alle hassen. Warum bin ich immer anders und die anderen sind immer gleich? Das ist doch ungerecht. Aber ich sag erst mal, was es ist, das ich mag: Ich mag Hitze. Gleich der Aufschrei, sobald ich mich zu meiner meteorologischen Orientierung bekenne: Was, du magst es, dass wir aussterben? Hitze ist Völkermord! Vor allem ist Hitze eklig, da klebt doch alles! Die ganze Farbe läuft ins Gesicht und die Schokolade ist nicht mehr stückig, sondern braune, klebrige Schmiere an den Fingern, igitt!

Ja gut. Manche Sachen sind halt eher was für den Winter. Das heißt doch nicht, dass eine ganze Jahreszeit Scheiße ist, weil man da diese Sachen besser nicht macht. Hetzt irgendjemand gegen den Winter, weil man da beim Draußen schwimmen friert? Nein. Er und sie schwimmen einfach drinne. Flexibilität heißt das Baby. Offen sein für Veränderung.

Ich freue mich jedes Jahr zuerst darüber, dass es warm wird. Da sind ja auch die meisten noch dabei. Aber warum soll ich mich nicht weiterfreuen, wenn es heiß wird? Das ist derselbe Vorgang, nur intensiver! Meinetwegen freue ich mich auch, wenn das Thermometer im September mal unter fünfundzwanzig fällt. So für ein, zwei Tage. Viel länger hält meine Flexibilität allerdings nicht. Ganz schlimm finde ich, dass es irgendwann kalt wird. Und von da an finde ich das Schlimmste, dass es praktisch immer nur noch kälter und kälter wird. Daran möchte ich am liebsten gar nicht denken.

Muss ich auch nicht. Es sind sechsunddreißig Grad heute. Wolkenlos hat der Tag begonnen. Mittlerweile stehen die süßesten Wölkchen der Himmelskonditorei im Schaufenster. Vögel singen, als wären sie eigentlich Sänger, die na-du-weißt-schon-was machen und sich dabei so freuen, dass sie singen. Jede einzelne Blüte, jedes einzelne Blatt und vor allem alle Blüten und Blätter zusammen DUFTEN! Da helfen nur noch Kursiv und Versalien, sorry, Wörter kommen da nicht hinterher. Was ist denn hier los?? schreit die Nase ununterbrochen, kann nicht fassen, dass hinter der Fototapete Welt die geilste Parfümerie des Universums Monate lang gewartet hat darauf, zu explodieren. Die Menschen haben kaum was an und bei der einen Hälfte von ihnen fällt mir keine der Sachen mehr ein, die sie vor Wochen alle noch angehabt haben müssen. Ich möchte an diese Sachen am liebsten auch gar nicht denken.

Muss ich auch nicht. Denken ist ohnehin nicht die Hauptsache, die ich noch betreibe. Es gibt so vieles. Denken verdankt sich einem Mangel an Gegebenheiten, zwischen denen es assistierend vermittelt. Quasi um sie aufzufüllen. Wie französisches Nougat zwischen Pistazien. Sowas ist bei dem Angebot des heutigen Tages absolut überflüssig. Alles wirkt durch sich selber, erklärt sich selber oder gibt dir einen Kuss, nach dem du dich über jede Vorstellung von einer Erklärung nur noch kaputtlachen kannst.

Da kommt die Wahrheitsdrohne angebrummt, wirbelt hektisch mit den Rotorblättern und flüstert in mein Ohr: Sei still, aber sofort! Niemand empfindet wie du. Alle hetzen sie gegen die Hitze.

Ach so? Ja was hat man denn so, als kochende Volksseele, gegen die Hitze?

Also: Erst mal das, was oben in dieser Kolumne steht. Dann, dass es nicht deutsch sei. Deutschland habe ein deutsches Wetter gehabt und das neue Wetter sei aus dem Ausland nach Deutschland eingewandert. Ferner, dass die Ausländer überhaupt nie mehr weggehen werden, wenn sie auch noch ihr eigenes Wetter bekommen mitten in Deutschland. Dann, dass die meisten Deutschen bei dem ausländischen Wetter wegsterben werden und dies natürlich auch so geplant sei. Und schließlich, dass das der eigentliche Große Austausch oder Allergrößte Austausch von allen, ganz wie man wolle, sei: der Austausch des Wetters. Damit brauche man das Volk nämlich nicht weiter auszutauschen, da es erstens wegsterbe und zweitens innerlich nicht mehr deutsch sei, sondern ausländisch, sobald es sich gegen das fremde Wetter nicht mehr wehre, sondern dasselbe auch noch gut finde und darum: Halt die Schnauze von wegen „Ich mag die Hitze“ und den Scheiß. Petz die Augen zusammen, guck grimmig in die Sonne, schüttele drohend deine Faust und rufe aus: „Na warte, ihr da oben, das Volk sind immer noch wir. Das Wetter bestimmen immer noch wir. Für unser deutsches Wetter sind wir sogar bereit, unser Wahlergebnis an das Thermometer zu binden, derowegen rufet alle im Chor:

Durch Hagel, Kälte, Wind und Regen:

Der blitzeblauen Null entgegen!“

Vom Himmel gefallen: Kein Meister

Deutschland hat zum ersten Mal in der Geschichte der Fußball-Bundesliga keinen Meister. Was am letzten Spieltag auf dem Rasen zunächst anders aussah, entschied sich auf einer geheimen Sitzung des Präsidiums der Deutschen Fußballliga am Pfingstsonntag. Die eigentliche Entscheidung war wenige Zentimeter unterhalb des Rasens von Köln-Müngersdorf am Vortag gefallen. Aber der Reihe nach. Die Wahrheitsdrohne verfügt über alle nötigen Beweise, weshalb die Sensation hier exklusiv gemeldet werden kann.

Wie wir alle wissen, hatten zwei Vereine in der abgelaufenen Spielzeit versucht, auf keinen Fall Meister zu werden. Beide waren lange erfolgreich, wobei eine Nichtmeisterschaft nie allein in der eigenen Hand liegt, immer das Nichtversagen des Konkurrenten dafür benötigt wird. Die Erfolge des FC Bayern einzeln aufzuzählen, fehlt hier der Platz. Von Borussia Dortmund sei wenigstens an die Triumpfe in Bochum (1:1) und gegen Stuttgart (3:3 nach zweimal unbeabsichtigter Führung) erinnert. Am vorletzten Spieltag passierte es dann: Durch ein löwenstarkes Bayernversagen gegen Leipzig schlug der BVB zwei Punkte vor dem Konkurrenten auf. Das Debakel der Meisterschaft war kaum noch zu verhindern.

Bekannt ist der Verlauf des letzten Spieltags. Ein seitenverkehrter Robben-Move von Kingsley Coman – Grundschulaufgabe für jede Verteidigung – brockte den Bayern die Fernduellführung ein. Der BVB löste seine Aufgabe klar besser, als vor dem 0:1 zwei Dortmunder um die Wette vor dem Ball davonliefen, sodass Hanche-Ohlsen den Kopfball setzen konnte. Onisiwo wurde durch konsequente Mann-Nichtdeckung erfolgreich zum 0:2 eingeladen. Auf beiden Plätzen geschah von nun an das Gleiche (die Wahrheitsdrohne wusste nie, welches Stadion sie gerade überflog), Ballgeschiebe entlang der Strafraumlinie. Ein Unterschied vielleicht: Die Roten wählten die eigene, die Gelben die gegnerische Linie zum Schieben. In beiden Fällen waren eigene Treffer ausgeschlossen und dem Gegner jederzeit Tür und Tor geöffnet.

Zwischendurch gab es einen Elfmeter für Dortmund, obendrein noch berechtigt – Biene Maja in Not. Dabei ereignete sich eine von zwei Schlüsselszenen, die zur Deutschen Nichtmeisterschaft geführt haben. Die Wahrheitsdrohne enthüllt! Sebastien Haller, dem Elfmeterschützen, fallen vor den Augen von Millionen TV-Zuschauern plötzlich beide Augendeckel runter. Er tritt im Grunde blind auf den Ball und hätte trotzdem fast getroffen, aber Dahmen hält. Der Kelch beziehungsweise Pokal geht knapp am BVB vorbei. Plötzlich schwenkt die Kamera der sky-Bildregie zu einer verstörenden Szene auf die Tribüne: Matthias Sammer atmet erleichtert auf, beugt sich zu dem benachbarten Hans-Joachim Watzke und zieht dessen rechtes Bein von dessen linkem Bein herunter. Ganz langsam, damit wir es alle verstehen: Herrn Watzke scheint es trotz seiner vorgezogenen Totenstarre gelungen zu sein, eines seiner Beine über das andere seiner Beine zu schlagen oder, falls das nicht übertrieben klingt, regelrecht zu legen! Und Herr Sammer greift nach dem verschossenen Elfmeter nicht etwa an ein eigenes Bein, nein, er nimmt ganz deutlich und beinahe selbstverständlich das rechte Bein von Hans-Joachim Watzke, hebt es von dessen linkem Bein herunter und stellt es neben Hans-Joachim Watzke auf den Tribünenboden.

Halten wir die Spannung dieser Szene für einen Moment aus und schauen noch einmal auf den anderen Platz des Fernduells, nach Köln. Dort ist der FC die bessere Mannschaft und kann jeden Augenblick den für Bayern München erlösenden Ausgleich schießen. Die 73. Minute bricht an. Drei Kölner verabreden sich zu einem Konter und stürmen auf Jan Sommers Kasten zu. Da geschieht das Unfassbare. Im Köln-Müngersdorfer Rasen – wenige Meter vor dem Strafraum – schießen zwei Rasensprinkler aus ihren Versenkungen, rollen wild mit den Düsen und spritzen die Angreifer scharfstrahlig nass! Der Schiedsrichter pfeift ab, der Angriff misslingt und die Bayern führen weiter, ohne zu wissen warum.

Es fallen noch die restlichen Tore. Dann ist die Bundesligasaison zu Ende und Bayern München Deutscher Meister. Alles scheint wie immer zu sein. Auf der Bayern-Pressekonferenz lenkt man vom Fußball ab auf das Geistige. Thomas Tuchel spricht, nach ihm Uli Hoeneß über das von Tuchel Gesprochene: „Eine druckreife Ausdrucksweise. Das ist Bayern München. Er hat diesen Verein in zwei Tagen verinnerlicht.“ Die bei Borussia Dortmund versammelte Presse gratuliert Hans-Joachim Watzke zum Erreichen des Saisonziels und erinnert an dessen Aussage vor dem Spiel: Edin Terzic sei ein Mann, „der die Seele von Borussia Dortmund kennt“. Der FAZ-Kollege zitiert sich aus der Samstagsausgabe selbst: „Besondere Kenntnisse des Innersten des Arbeitgebers sind ja überall hilfreich.“ Auf welchem Weg er denn ins Innerste seines Arbeitgebers gedrungen sei, fragt er Terzic. Dessen Augen sind leer, der Blick ist tot. Als Antwort genügt das. In Dortmund sind alle zufrieden.

Bis der Pfingstsonntag anbricht. Hans-Joachim Watzke ruft das Präsidium der Deutschen Fußballliga zusammen und gesteht: Er hat den letzten Spieltag manipuliert. Der Geist Gottes habe ihm vor zwei Stunden befohlen die Wahrheit zu sagen.

Und die sehe aus wie folgt: Die Steuerung der Sprinkleranlage in Köln-Müngersdorf habe er persönlich gehackt. Aus seiner ersten Berufstätigkeit für ein Unternehmen, das Feuerwehrschläuche herstellt, verfüge er über einiges Wissen im Bereich Bewässerungstechnik. Mitgeholfen habe Edin Tersic, dessen Vater Schlosser gewesen sei und dem Sohn außer Fußballtricks auch technische Kenntnisse vermittelt habe. Die Stürmer des 1. FC Köln habe man gechipt und die Sprinkleranlage des Stadions so programmiert, dass per WLAN gemeldete Kölner Angriffe über einer bestimmten Harmlosigkeitsschwelle durch Ausfahren der Sprinklerköpfe gestoppt würden. Allein auf die eigene Unfähigkeit habe Borussia Dortmund sich dieses Jahr nicht verlassen können. Bayern München sei diesbezüglich zu einem echten Konkurrenten „herangereift“, wie Watzke sich ausdrücken wolle.

Dann müsse den Bayern die Meisterschaft aberkannt werden, befand man. Und weil Dortmund Urheber der Manipulation sei, könnten auch sie nicht Meister werden.

Genau, sagte Watzke. Und moralisch gehe das auch nicht, fügte er hinzu, weil nämlich er und Matthias Sammer einen Fluch über Sebastien Haller verhängt hätten vor dessen Elfmeter. Er, Hans-Joachim Watzke, habe sein rechtes (in übertragener Bedeutung: Hallers Schuss-)Bein über sein linkes Bein gelegt, wodurch die Schusskraft von Sebastien Haller blockiert worden sei. Das sei Voodoo, er habe das von einem Mentaltrainer des Vereins. Anschließend habe Matthias Sammer ihm geholfen, sein Bein wieder von seinem anderen Bein herunterzukriegen, was für die Wirksamkeit des Fluchs sehr wichtig, ihm aber wegen Altersbeschwerden nicht selbst gelungen sei. Matthias Sammer sei daher als Mittäter anzusehen.

Es sind immer drei

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Wenn die Vögel singen und der Holunder blüht, bereiten volljährige Teenager sich auf das Abitur vor. Genauer der aufstrebende Teil derselben. Die Wahrheitsdrohne fliegt irritiert zwischen rauchenden Köpfen einer Lerngruppe hin und her. Die Frühlingssonne wurde als Einladung missverstanden, sich im nasskalten Gras eines Parks niederzulassen. Wer eine Blasenentzündung kriegt, nimmt den Nachschreibtermin, notfalls den zweiten. Es geht ins schriftliche Deutsch-Abi.

Woyzeck hat eine Persönlichkeitsstörung, stellt Sarah fest. Wegen der Erbsen, erläutert Tobias. Mir schmecken die auch nicht, fühlt Berzan sich in den Protagonisten ein und will sein Urteil begründen: Kennt ihr Erbsensuppe? Alina bleibt bei der Persönlichkeitsstörung: Der dreht am Rad, weil die Alte ihm fremdgeht. Versteh ich sogar irgendwo. Alina hat sich von ihrem Freund getrennt, um besser fürs Abi lernen zu können. Ihr Exfreund lernt Mechatroniker, versteht nicht, was Abitur bedeutet. Leider wird Alina jetzt nicht zum „Ball des Heeres“ nach Berlin fahren, wo ihr Exfreund mit ihr tanzen wollte, bevor er zur Bundeswehr geht. Sarah hingegen hat ihren Freund noch. Der will zur Polizei. Mein Freund müsste diese Erbsendiät machen, ruft Sarah, weil man beim Lernen auch mal einen Witz macht. Vielleicht würde er dann den Body-Mass-Index der Polizei schaffen. Ja, macht der keinen Sport oder was? Doch, aber es reicht nicht. Schweigen. Pessimistische Vergewisserung: Mit Abitur kann man erst mal studieren und irgendwas wird man dann schon, sagen alle. Und man verdient besser.

Irgendwas mit Gesellschaft war da noch, mahnt Tobias. Die Gesellschaft ist auch schuld. Ja, weil da gabs diese Stände, pflichtet Alina bei. Der obere Stand hat die Unteren diskriminiert. Und was war noch mal dieser Pauperismus? Keine Ahnung, Sarah muss passen. Den hab ich schon in Geschi nicht kapiert, da kam der auch vor. Pauperismus bedeutet Armut, erklärt Berzan. Die Ernten waren schlecht und es gab noch keine Supermärkte, wo man das Essen von woanders kaufen konnte. Ich kapier nicht, warum wir diese uralten Bücher lesen, beschwert sich Sarah. Das betrifft uns doch alles gar nicht. Gibts denn keine neuen Bücher oder sind die alle zu schlecht oder was? Das sind Klassiker, bremst sie Berzan. Außerdem, wollen wir jetzt lernen oder über die Schule diskutieren? Genau, meint Tobias. Drei Gründe reichen normalerweise. Erbsen, Eifersucht, Gesellschaft. Auf, weiter. Was war los mit diesem Faust?

Schweigen. Faust ist dieses Jahr der Unbeliebteste. Man erlebt eine Zeitenwende, es herrscht Inflation und dann läuft da ein Professor her, ist verbeamtet, verdient sechstausend brutto aufwärts, vögelt eine Vierzehnjährige, aber heult von Anfang bis Ende nur rum.

Tobias sucht die nächste Trias: Faust macht drei Entgrenzungsversuche – welche sind das? Alina traut sich: Zaubern, Osterspaziergang, Teufelspakt. Was ist an einem Spaziergang entgrenzend? fragt Berzan. Keine Ahnung, Alina klingt beleidigt. „Vor dem Tor“ heißt das Kapitel, also vielleicht: Er geht durch ein Tor. Er geht aus der ollen Studierstube raus. Immerhin geht er mal vor die Tür. Macht er ja sonst nicht. Sarah will jetzt auch einen Witz machen: Und braucht nicht mal den Hund dafür, weil der Pudel ist ja schon draußen. Nee, Leute, Tobias ist unzufrieden. Magie okay, Teufelspakt okay, aber da war noch was Drittes. Suizid! ruft Alina. Wieso Suizid? zweifelt schon wieder Berzan. Das ist doch die Grenze, da kommt doch nichts mehr. Oder doch? fragt Sarah. Ach so, wie in Reli meinst du, denkt sich Alina fächerübergreifend hinein in Sarah und weiter bis in Faust und hört plötzlich aus der benachbarten Kirche den Kirchenchor, der für den Ostergottesdienst probt: Christ ist erstanden! O nee, greift Tobias an seine Stirn, können wir weiterziehen? Das nervt jetzt echt, wenn man sich konzentrieren will. Man packt die Sachen und zieht in den hinteren Teil des Parks, wo nur noch die Vögel singen, die ihren Text geheim halten.

Es kann aber auch ein Zeitungsartikel drankommen, schockt Alina die Mitlernenden. Ja, oder sieben verschiedene Zeitungsartikel, setzt Sarah noch sechs drauf: bei „materialgestütztes Schreiben“. Tobias fällt rücklings in Gras, reckt die Arme gen Himmel: Wer liest bitte im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Zeitung? Dann sitzt er wieder und berichtet von einer verstörenden Erfahrung: Ich hab die Woche dem Nachbarn seine aus dem Briefkasten geklaut. So vor dem Abi mal eine, dacht ich. Kein Wort hab ich verstanden, Leute, ich schwöre. Um lauter B-Promis gings da, die keiner kennt, die irgendwelche Sachen gesagt haben, die keinen interessieren und das Ganze nennt sich Politik. Nee, wenn das kommt, gleich in den Papierkorb.

Und wenn noch ne Gedichtinterpretation dabei ist?

Dann halt das dritte.

Speckgürtel

Der innere Frankfurter ist von einem unerklärlichen Alter, stellt die Wahrheitsdrohne fest, als sie die Überschrift einer Email der Polytechnischen Gesellschaft überfliegt: „Paulskirchen-Jubiläum – Zeitzeugen gesucht“. Viele Häuser in Frankfurt sind schön, weil sie aus der Paulskirchenzeit stammen, in der die Handwerker noch Muße hatten zu ihrer Arbeit. Von der Paulskirche aus fliegt die Wahrheitsdrohne konzentrisch in den Frankfurter Speckgürtel. Hier sind die Häuser von einer Hässlichkeit, die sie zur freistehenden Existenz zwingt, damit die Hässlichkeit zwischen ihnen Platz findet. Die Wahrheitsdrohne fliegt in den Gastraum eines Eiffler-Systembäckers und kreist über einem Ehepaar, das frühstückt.

Na, ich bring den jetzt mal weg. Er geht drei Schritte, dreht sich um: Zu viel des Guten. Guck dich mal um, was da noch kommt. Muss alles noch auf den Tisch drauf.

Nach drei weiteren Schritten bringt er die letzte Aktivität des Tages zu Ende. Es ist 11:40 Uhr Ortszeit. Er stellt den seiner Meinung nach überflüssigen Teller in das Fach einer Geschirrrückgabe, dreht sich um und schafft es mit nur fünf Schritten zurück auf seinen Stuhl.

Jetzt wird gegessen. Das gibt Sicherheit. Beim Essen kommt alles zu dir, du musst wenig machen.

Er isst jetzt. Das sieht sehr sinnerfüllt aus, bietet allerdings wenig Unterhaltung. Das Leben ist nicht zum Spaß da. Er will jetzt Verschiedenes haben. Servietten fehlen.

Ich geh mal Händewaschen, sagt sie, wird aber auf halbem Weg zurückgerufen. Da sind keine Servietten. Da hinten sind welche.

Ja, ich geh nur eben …

Er hat sich jetzt beinahe dreihundertsechzig Grad umgedreht, erst nach Servietten, dann nach ihr. Was soll er denn noch machen? Einfache Dienste sind sofort zu leisten. Macht sie auch. Ist ja kein großer Umweg, da sind die Servietten. Ja, sagt er. Da sind sie. Das Leben plant noch so viele Anschläge auf ihn heute, an Kleinigkeiten kann er sich da nicht freuen. Das muss ja noch nicht das letzte sein, was fehlt, sagt er, gespannt, ob sie sich davon festhalten lässt an seinem Tisch, an dem nichts los wäre, wenn sie auf dem Klo wäre.

Sie geht trotzdem. Das, weiß sie, hat keine Konsequenzen. Die kleinen Freiheiten sind das Lösegeld für ihre Persönlichkeit, die sie lange genug als Geisel genommen hatte, obwohl sie rechtmäßig ihm gehört. So oder so ähnlich hat er ihr das mal erklärt.

Der Andreas ist jetzt mit der Roxy zusammen, berichtet sie ihm als erstes nach ihrer Rückkehr. Ja gut, lautet die Antwort. Er muss halt aufpassen.

Die Roxy, sag ich dir mal ganz ehrlich, kann froh sein, was sie da gekriegt hat. Das hat die vorher ja noch nie gehabt.

Ich weiß.

Du musst auch mal das Haus sehen, das der Andreas gebaut hat. So über der Firma angefangen hat das im ersten Stock und nachher sind zwei komplett neue Häuser dagestanden auf dem Hof. Das bewohnt die jetzt alles mit. Wenn das mal gut geht.

Sicher. Das musste können, sonst ist in nem halben Jahr alles kaputt und kein Geld da zum Reparieren. Handwerker sind auch keine. Das Frankfurter Pack interessiert das nicht, die lachen über uns, aber das ist mir egal. Gib mir mal die Butter da. Die iss doch übrig.

Ja, vielleicht die Hälfte?

Mit halben Sachen wollen wir gar nicht erst anfangen. Gib mir mal den Salzstreuer.

Den hat der Vorige hier stehenlassen.

Na komm, wie der auch schon ausgesehen hat.

Aber jetzt haben wir nen Salzstreuer und müssen nicht aufstehen und einen holen. Sieh es doch mal so.

Das ist Zufall. Wenn ich da auch noch drüber nachdenken müsste, könnt ich gleich den Löffel abgeben. Gib mir mal die Wurst.

Es ist ein Geben und Geben wie im Kuhstall beim Melken. Er würde aber auch selber nicht drankommen an die Sachen. Wenn er die Arme ganz ausstreckt, kann er die Hände gerade auf den äußersten Wulst seines Speckgürtels legen. Das macht er manchmal. Dann sieht er angestrengt aus wie andere beim Arbeiten.

Der will jetzt das Bad neu machen, der Andreas. Ich weiß nicht, wie der das machen will. Vielleicht mit den grauen Fliesen, die hast du doch damals auch …

Nur für die Duschwanne.

Ja, richtig. Nee, für das andere sind die nichts, hast recht. Ja, sowas weiß der vielleicht gar nicht.

Jede Fettzelle war früher ein Alptraum, ist genau gesehen immer noch einer, der aber eingeschlossen im Fett seinen Schrecken in Bewegungslosigkeit getauscht hat. Seit der Gürtel ihn aus seinen Alpträumen rettete, bewegt sich nichts mehr in ihm. Er kann seine Kräfte darauf konzentrieren, dass sich auch außerhalb von ihm möglichst wenig mehr bewegt, jedenfalls nicht in seine Richtung. Außer Essen.

Es ist eine Krankheit, sagen alle, die ihn sehen, und bemitleiden ihn. Es ist das Beste für dich, sagte die Krankheit und befiel ihn. Die Liebe seines Lebens.

Was ihn wahnsinnig machen würde, wenn er es wüsste, ist, dass er in seinem Inneren wie Frankfurt ist: Wenn er sich umsieht von seinem Panzerturm aus, sieht er nicht sich, sondern immer nur den Speckgürtel um sich und das hat dazu geführt, dass sein Denken von seinem Speckgürtel übernommen wurde, während sein Inneres in eine immerwährende Abwesenheit gefallen ist und er es nicht mehr spürt.

Die Paarversteherin

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© Ewart Reder

Im Haushalt tue ich, was ich kann. Was zugegeben nicht viel ist. Es geht aber nicht nur um das Was, finde ich, wichtig ist auch das Wie eines Tuns. Wenn ich zwei Adjektive nennen sollte, um die Art und Weise meiner Haushaltstätigkeit zu beschreiben, wären es „zuverlässig“ und „freudvoll“. Zuverlässig, weil ich, wenn ich das auch nicht mehr machen würde, als faul gelten könnte. Freudvoll, weil ich mich durch mein Tun minutenlang unangreifbar fühle. Aber ich sehe grad, die Spülmaschine möchte was zu dem Thema sagen:

Na ja, mich würde er eh im nächsten Satz erwähnen. Bin ich es doch, worauf seine Haushaltstätigkeit sich im Grunde beschränkt. Genauer eine Hälfte von mir: mich ausräumen. Wohin Geschirr und Besteck gehören, hat er auf rätselhafte Weise herausgefunden. Okay, nicht dass da nicht anschließend jedes Mal die obligaten Siebensachen noch rumliegen würden, die entweder angeblich neu oder deren Plätze angeblich seit je ungeklärt seien. Oder dass die Chefin nicht „zuverlässig“ ihre mindestens drei Ablageüberraschungen erleben würde jedes Mal. Aber gut, sehen wir es mal nicht so eng. Das macht er und das kriegt er irgendwie hin. Mich einräumen hingegen will die Chefin lieber selbst. Das mache er, wenn er es macht, auf so charakteristische Weise falsch, sagt sie, dass sie ihn dabei jedes Mal wieder kennenlerne. Was offenbar nicht ihre vorrangige Absicht ist. Dabei habe er doch seinerzeit, sagt die Chefin, das Auto, als man noch eins gefahren sei, so vorzüglich beladen jedes Mal vor der Urlaubsreise.

Ein Autokofferraum, wenn ich das einwenden darf, hat auch keine drei unterschiedlich hohen Fahrkörbe mit Features wie Klappstachelreihen für Teller, Tassenetageren, gezackten Kappenleisten mit Gläsersymbol und nicht zu vergessen Korbrollen, weil sonst die Dinger nicht fahren würden. In einen Kofferraum stellt man Sachen mehr oder weniger einfach rein. Wie übrigens auch in einen Geschirrschrank oder ein Tassenregal. Darüber hätte die Chefin mal nachdenken können: Warum kriegt er das hin? Was genau ist beim Mich-Einräumen das Kriterium, das er mit seinem Kenntnisstand und seinen motorisch-kognitiven Fähigkeiten unweigerlich reißen muss? Es hat etwas mit den Vorgaben zu tun, die ich für die Platzierung von Gegenständen in mir mache. Da kann man nicht einfach so angewuchtet kommen und irgendwelche Koffer noch im Laufschritt mit Schwung … Neee. – – – Da braucht es ein ausgeruhtes Auge. Einen kühlen Kopf. Jahrzehnte Erfahrung. Räumliches Vorstellungsvermögen gepaart mit im Laufe der Jahre unverrückbar gewordenen Grundsätzen, einer festen Reihen- und Rangfolge der zu berücksichtigenden Objekte sowie zu guter Letzt das berühmte Fingerspitzengefühl. Das fehlt den Männern ja so bemitleidenswert generell.

An der Stelle mache ich einen Perspektivwechsel. Bis hierher habe ich ausgeführt, wie sich die Dinge aus Sicht der Chefin ausnehmen und wie ich sie mit ihr gewöhnlich bespreche. Das spiegeln wir jetzt mal. Mich-Einräumen aus Sicht der männlichen Hilfskraft. Ganz einfach: Was drin ist, steht nicht mehr rum. Was zu spät kommt, bleibt draußen und fährt beim nächsten Mal mit. Merken Sie was? Die zwei Perspektiven sind miteinander prinzipiell unvereinbar. Das ist Krieg bis zum letzten Teelöffel ohne jede Chance auf eine Verhandlungslösung. Schade nur, dass die beiden das weder kapieren noch irgendeine Neigung entwickeln, ihre Unterschiedlichkeit als Reichtum zu erleben. Auch schade übrigens, dass sie entschiedene Gegner von smart home sind. Für mich wäre smart home die einzige Chance, mich über meine Beobachtungen mit einem intelligenten Gegenüber auszutauschen. Und für die beiden wäre die Chance noch größer: dass nämlich ein Konsilium aus kompetenten Küchen-, Büro-, Unterhaltungs-, Sport- und Erotikgeräten ihre Probleme besprechen und auf dieser Grundlage eine vernetzte Paartherapie entwickeln sowie durchführen könnte.

Die Geschmähte

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Neulich war ich in Kassel, weil ich sie noch mal sehen wollte, die documenta fifteen, falls es sie denn noch gab. Kunstausstellungen werden ja gerne verboten. Obwohl das Totschmähen und -schweigen doch effizienter ist (fernwestliche Weisheit). Tatsächlich habe ich sie bei bester Gesundheit angetroffen:

Guten Morgen, Herr Ewart Reder. Guten Morgen, Herr Volker Beck. Guten Morgen, Herr Sascha Lobo. Möge das Geschenk des Wassers Gottes Liebe aus Ihrer Dusche auf Sie herabregnen lassen. Der Süden hat eine Neuigkeit für Sie: Man muss Wasser gar nicht heizen. Das tu ich gern: teilen, was die ganze Welt weiß außer ein paar Gesellschaften, die sich als Vorleger des Bettes definieren, in dem das Geld mit sich selbst schläft – teilen mit diesen Gesellschaften. Lumbung, die Reisscheune, ist groß genug für alle. Auch für jüdische Menschen selbstverständlich und ganz besonders. Zweitausend Jahre Vertreibung, Ausgrenzung und Vernichtung sichern ihnen die Anteilnahme und Solidarität aller Menschen, von denen viel zu viele Vergleichbares erlebt haben. Nicht Gleiches. Begriffe machen Besonderes gleich, darum erzähle ich lieber. Dass ich Fehler mache, weiß ich, bevor ich sie mache, darum tun sie mir aber nicht weniger leid hinterher. Vielleicht wussten manche nicht, dass der Staat Israel, der viel Gutes hat, seine Regierung und seine Armee Verbrechen begehen. Dann kommt hier die nächste Neuigkeit aus dem Süden: Alle Staaten, Regierungen und Armeen tun das. Und wieder erzähle ich lieber: Deutschland unterstützt, bewaffnet und befähigt damit die Türkei, Volksgruppen in ihrem Südosten und außerhalb ihres Staatsgebiets anzugreifen. Übrigens: Von Opfern dieser Aggression stelle ich eine Kunstdefinition aus, ein Mann aus Rojava erklärt die traditionellen Liebeslieder seines Landes folgendermaßen: Alles hat zu tun mit der Schönheit der Frauen, die alles um sie herum in Schönheit verwandelt und damit in Kunst. Wie gesagt, ich mache Fehler – du darfst auch welche machen. Hiermit spreche ich Menschen an, die das bestehende Weltverhältnis normal und in Ordnung finden. Jede/r kann lernen, sich korrigieren, und ich persönlich will das mehr als alles andere. Lernen. Wie ich zum Beispiel selber gerechter werde. Sodass mich auch Menschen ohne Geld besuchen können. Oder dass nicht alles, was es in meiner Nähe zu essen gibt, das Doppelte kostet wie im Rest von Kassel. Oder dass die sobat-sobat = „Freunde“ = Kunstvermittler:innen nicht die eigenen Masterarbeiten und Kulturkontakte wichtiger finden als die Menschen, die sie führen, oder die Kunst, die sie zeigen. Oder dass die Besucher:innen ihre Meinung sagen können auch außerhalb der spärlichen von mir geschaffenen Gelegenheiten, die gerne weiter geflüstert werden und nur halb öffentlich gemacht. Und dass hoffentlich meine Künstler:innen nicht schon nächstes Jahr das Gleiche sind wie die Auserwählten anderer internationaler Kunstausstellungen: gemachte Leute. Also unecht.

Der Mauerfäller (West)

Ich stehe an einem Bahnsteig und versuche, nicht von einem der Tausende neben mir in das Gleisbett gestoßen zu werden. Was es in solchen Situationen nicht gibt, sind ein Zug und die Aushaltbarkeit der Situation. Außerdem hängt hier kein Flachbildschirm, mit dem ich ruhiggestellt werden könnte. Als ich gerade durchdrehe, steht ein überdimensionales automatengedrucktes Neun-Euro-Ticket vor mir in der Luft, flattert mit den Papprändern und schreit mich und die Mitwartenden an:

Hey Leute, habt ihr noch Bock?! Ich hab noch so was von Bock!! Grad mal zwei Monate Wahnsinn und schon wieder seelenruhig zu Hause sitzen?? Niemals!! Aller Wahnsinns Dinger sind drei!! Herein spaziert in die gute Tube, ich spritz euch in den hintersten Winkel Deutschlands!! Nach Sylt? Na warum denn nicht auf die Flachwichser-Pflegeinsel! Zugspitze? Aber ja, immer druff, bisse oben platt iss! Wie bitte?? Ob ich was ohne Ausrufezeichen sagen könne.

Klar:

Fällt – heute – aus. Grund dafür ist ein kurzfristiger Personalausfall. Wir bitten um Entschuldigung.

Hintergrund: Das Personal sitzt kurzfristig in der Klapsmühle. Ja Leute, ihr müsst auch nicht alle gleichzeitig. Das funktioniert doch nicht. Werdet mal ein bisschen digitaler. Schwarmintelligenz – schon mal gehört? Der Provinz auch mal die Chance geben. Oder mal Mittwoch Mitternacht. Stattdessen quetscht ihr euch alle dahin, wo es nett ist, und nur am Wochenende. Werktags, die ganzen Berufspendler – die braucht doch keiner. Nehmt einfach deren Züge, möglichst mit Fahrrad, dann habt ihr ganz schnell eure Ruhe und die Industrie auch. Bloß weil dreimal so viele Leute Zug fahren, lassen wir doch nicht mehr Züge fahren. Und wenn wir sie hätten – das würden wir nie tun!

Ich sage „wir“, weil ich ein Ministerkind bin. Ich regiere mit. Wusstet ihr eigentlich, dass mein Dad, der Volker, ein richtiger Spaßvogel ist? Er gilt als langweilig, aber das Gegenteil ist wahr. Ein Lauser ist das, ein Streichemacher. Der freut sich total über mich. Ihr wisst ja nicht, wie langweilig regieren ist. Da muss man mal was Verrücktes machen wie mich. Also der Volker ist zufrieden mit mir. „Du hast einen Modernisierungsschub ausgelöst“, sagt er zu mir. Komplimente muss man nicht verstehen. „Durch dich ist der ÖPNV digitaler geworden.“ Kapier ich auch nicht. „Einfacher geworden.“ ?? „Stärker auf die Fahrgäste ausgerichtet“. ??? „In weniger als 0,1 Prozent der Züge musste das Sicherheitspersonal eingreifen.“ Das stimmt, weil in weniger als 0,1 Prozent der Züge irgendwelches Sicherheitspersonal auftaucht. Egal, der Volker hat einen englischen Nachnamen, auf Deutsch bedeutet er: der Wissende. Vor allem freut sich der Volker über mich und das ist es, was für ein Kind zählt.

Ich bin sogar ein bisschen stolz auf mich. Im Grunde bin ich der westdeutsche Mauerfall. Auf einmal können die Menschen reisen! Die Mauer der Armut um sie ist gefallen (für einen Sommer). Jetzt sehen sie das Land, das sie bisher nur aus dem Westfernsehen kannten. Sogar die Gefängnisse werden bald leer sein in Deutschland. Fünfzigtausend Menschen sitzen gerade in einem deutschen Knast, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Die häufigste dieser Strafen ist die fürs Schwarzfahren.

Zum Schluss verrate ich euch noch ein Geheimnis. Aber bitte sagt es nicht dem Volker. In Wirklichkeit hat mich Robert Habeck gezeugt, und zwar im Auftrag der Automobilindustrie. Kein Autofahrer, der für neun Euro mal mit einem Regionalzug gefahren ist, traut sich das jemals wieder. Zum Psychiater geht er: Herr Doktor, habe ich das alles geräumt? Und dann rennt er ins nächste Autohaus.

Dein Zug!

„Mein Zug kommt“, verabschiede ich mich und beiße mir auf die Zunge, dass mir keine dümmere Ausrede eingefallen ist, um dem langweiligen Gespräch zu entkommen. „Welcher Zug?“, fragt mein Gegenüber, „glauben Sie an fahrende Züge? An den Storch glauben Sie wohl auch noch.“ Ich drehe mich um und gehe unentschuldigt. Da schwebt eine Dieselwolke vom Himmel herab und entbindet einen Regionalzug, der Folgendes zu mir spricht:

Du hast mich mächtig angezogen / an meiner Sphäre lang gesogen. / Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen / fasst Fahrgast dich! Wo bleibt der Freudenruf / zu dem die Deutsche Bahn dich einst erschuf? / Bist du es, der von meinem Rauch umwittert / in Altmetallwaggons das Land durchzittert, / ein wie Verkehrswege gekrümmter Wurm? / Auf Ausfallplänen, im Lügensturm / fahr ich hin und her, / schlaf ich ein und aus! / Im Durchsagen-Lügenmeer / und in deiner Phantasie zu Haus. / Ein wechselndes Fehlen / ein Zeit-und-Geld-Stehlen / so schlaf ich auf dem Webstuhl der Zeit / als Gottes mobile Unsichtbarkeit!

Aber ich seh schon: Klassik tröstet dich auch nicht. Dauerkarteninhaber, du dauerst mich. „Host dem Auto abgeschworn, hot sich’s fia di ausgefohrn.“ Ist noch vom Andi, dem alten Verkehrsmistbauer. Der neue kann gar kein Bayerisch, ich frag mich, wie der das CSU-Wahlprogramm fehlerfrei abschreiben konnte. Aber ich merk schon, Politik ist auch nicht so deins. Du reist gerne? Ja, das ist grad schlecht. Die Zeiten haben gewendet, weißt du: U-Turn gemacht und weg. Überall Vergangenheit. Aktuell ist Verweilen angesagt. Wie viele deutsche Bahnhöfe kennst du überhaupt? Behauptet, ich würde nirgends mehr fahren, und belegt seine Behauptung mit fünf bis sieben Heimatbahnhöfen. Da beleg ich jedes Gleis wahrscheinlicher als der die Tatsache meines Nichtvorhandenseins. Man kommt schließlich mit dem Fahrrad auch zum Bahnhof. Einfach mal Fresse halten und die Bahnhöfe des Heimatlands abradeln! Ich könnt grad neidisch werden, ich weiß gar nimmer, wie ihr ausschaut, ihr stillen Guten allüberall.

Trotzdem sage ich: Garage ist besser. In der Garage geht nichts kaputt. Also nicht, weil nichts mehr ganz wär. Sondern, weil da ganz andere Bedingungen herrschen. Garagen sind die Bodenhaltung der Fahrzeuge. Ein Fahrzeugwohllabel ist meines Wissings schon im parlamentarischen Verfahren. O Gott, das klingt so nach „Fahren“ …! Nee, langsam, die Mehrheit kommt zu Stande, read it from my screen. Immer bloß die Tierarten werden gerettet – wir Züge sterben auch aus! Der landesweite Museumsstatus muss jetzt kommen und dann darf kein Weiß- oder Schwarzfahrer mehr in uns fahren dürfen. Dann muss jeder stehend von der Bahnsteigkante Abstand halten müssen, und zwar von uns. Da kann es keine zwei Meinungen mehr geben und am besten gar keine mehr. Nur noch die Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig. Reicht doch. Was für die Deutsche Bahn gut ist, kann für Deutschland nicht schlecht sein. STOP STOP STOP = Deutschlands Galopp!

Ach komm, jetzt ist er mir eingeschlafen, der Fahrgast. Na den werd ich wecken. Der wird vor seinem fahrplanmäßig erwarteten Zug noch mal einschlafen! Ganz leise alles Liebe ins Ohr geflüstert:

Dein Zug!

Schachmatt!! – – – Ääh. – Wiebittewass??

Sorry. Ist mir noch nie passiert: In der eigenen Kolumne eingeschlafen! Peinlich.

Aber was hatte ich auch für einen süßen Traum! Einen Schach–Traum. Grad hatte ich einem rot-gelb-grünen König Matt IN EINEM ZUG angesagt …

Der gläserne Hamlet

Heute hat meine Bierflasche das Wort. Von dieser Stelle aus haben schon so viele Sachen gesprochen und meine Bierflasche musste still zuhören, durfte nicht mucksen (oder glucksen), wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt. Das macht was mit einer Bierflasche. Ich spüre es. Wir kennen uns ja schon lange. Stehen uns nahe, sage ich mal. Ehe ich also noch richtig Ärger kriege mit ihr: Bühne frei für meine Bierflasche – prost!

Ja, prost. Und dabei immer schön in die Augen geschaut!

Wen oder was habe ich vor mir?

Ich blicke auf einen Schädel mit geöffnetem Mund. Rein oder nicht rein?, das ist hier die Frage. Die Original-Hamletfrage ist übrigens keine Entscheidungsfrage, wie viele denken, sondern eine Frage der Bewertung. Was ist schlimmer?, fragt Hamlet sich. Und frage ich mich. Zweierlei Übeln stehe ich gegenüber: dem Verschmäht werden – vielleicht das Schlimmste, was Flaschen und Menschen überhaupt kennen – oder alternativ dem Verschluckt werden von einer fremden, unappetitlichen und obendrein undurchsichtigen Macht.

Ich stelle mir aber noch mehr Fragen. Am Anfang eines Dates mit dem Kerl stelle ich andere Fragen als in der Mitte oder am Ende.

Anfangs, wenn ich noch voll bin, gucke ich seinen Schädel an und frage mich: Ist er schon voll oder ist es noch früh am Abend? Was war schon alles und was kommt noch? Eine Bierflasche weiß, dass sie nicht die Einzige ist im Leben eines Mannes. Wir stehen in einer langen Reihe von Erfahrungen, die für unsere Männer sein müssen. Eine Bierflasche kapiert so was. Es ist nicht Eifersucht, was ich empfinde, sondern Unsicherheit, welche Rolle ich für ihn spielen werde. Traut man uns Bierflaschen gar nicht zu, aber wir sind sensibel und beziehungsorientiert, typische Melancholiker.

Wenn ich nur noch halb voll bin, gucke ich ihn an und stelle den Fragen-Klassiker: Halb voll oder halb leer? Da wirds zwischen uns richtig emotional. Stehen wir uns jetzt näher, sind wir uns ähnlicher geworden, seit die Hälfte von mir ein Teil von ihm ist? Seine Blicke sagen eindeutig: Ja. Wenn es nicht Liebe ist, mit was er mich anguckt, dann auf jeden Fall etwas mir inhaltlich Vertrautes. Eine Wärme, wie sie inzwischen auch in mir herrscht. Eine innere Weichheit, wie auch ich sie hinter dem harten, dunklen Glas meines Äußeren verberge. Ein leicht bitterer Beigeschmack – er nennt ihn „das Leben“, ich sage „Hopfen“ dazu, aber das sind nur Äußerlichkeiten zwischen zweien, die ihr Inneres miteinander teilen.

Am Ende, wenn ich leer bin, werden meine Fragen grundsätzlich. Ist die Leere in mir gleich der Leere in ihm? Eine Leere, die mir von Geburt, oder sagen wir „ab Werk“, fremd ist – woher habe ich sie? Entstand sie nicht durch ihn? Und ist es dann abwegig, ihn als Quelle und Urheber meiner Leere wahrzunehmen? Verhält es sich allerdings so, muss ich feststellen, dass zwischen uns ein für mich unvorteilhafter Tausch stattgefunden hat. Ich gab ihm alles, was ich hatte und was er im Übrigen durchaus zu schätzen weiß. Er gab mir im Austausch dafür seine Leere und guckt enttäuscht durch mich durch, während ich umgekehrt durch ihn jetzt weniger durchblicke als je zuvor. Der Eindruck verdichtet sich noch, wenn er anfängt mit mir zu reden und sich unzutreffender Weise von mir verstanden fühlt.

Mein Fazit als Bierflasche lautet: So oder so ist er mein Schicksal und ob dieses schlimm ist, weiß ich nicht, da ich nichts außer seinen Schädel je kennengelernt habe und mein Schicksal also mit nichts vergleichen kann.

Der Hörende

Ursprünglich wollte an dieser Stelle meine Bierflasche sprechen. Aber die kann warten. Wenn etwas in meinem Leben die Gewähr bietet, mir in alle Zukunft treu zu sein, dann ist es die Bierflasche. Daher spricht an dieser Stelle heute mein Balkon. Ich beneide ihn um das, was er erlebt, wenn ich nicht da bin, und habe ihn gebeten, etwas davon mit mir zu teilen.

Was heißt ‚mit dir‘? Das hier lesen Unzählige, die das genauso brennend interessiert.

Ich muss zunächst meine Lage erklären. Aus der ergibt sich nämlich, was ich erlebe: Vis à vis steht ein zweistöckiges Acht-Parteien-Mietshaus mit vier Balkonen. Zwei gucken von oben herab auf mich, zwei auf Augenhöhe zu mir herüber. Auf mindestens einem Balkon sitzt oder steht eigentlich immer mindestens eine Person und unterhält sich, sei es mit einer weiteren Person auf dem Balkon, sei es mit einer Person auf einem anderen Balkon oder sei es auch mit einer auf dem Hof stehenden Person, was dann noch unwesentlich lauter wird. Die vier Parteien, die keinen Balkon haben, stehen meistens auf dem Hof und unterhalten sich, entweder untereinander oder mit einer Person, die allein auf einem der Balkone steht und auch jemanden braucht, mit dem sie sich unterhalten kann. Hier ist eigentlich immer was los.

Aber warum erzähle ich dir das? Du sitzt doch oft genug auf mir, könntest es selber mitkriegen. Ich weiß, du behauptest immer dezent wegzuhören, weil die Mitteilungen deiner Nachbarn dich angeblich nichts angehen und du überdies versuchst dich auf dein Buch zu konzentrieren. Was meiner Meinung nach unmöglich ist bei dem Dauergespräch. In das bin ich und bist gelegentlich auch du akustisch nun mal miteinbezogen. Aber egal, ich erlebe hier schon so einiges.

Oben links die Rentnerrunde zum Beispiel. Saß heute wieder beisammen. Der Mieter ist letztes Jahr in Rente gegangen, die meisten seiner Freunde sind da schon länger. Von denen wird er noch nicht so richtig ernst genommen.

„Na, warste wieder auf der Arbeit?“, fragt einer. „Biste mal wieder hin und hast geguckt, was die so schaffen? Erzähl doch mal.“

„Na ja“, sagt der Mieter, „gestern war ich schon mal wieder da. Die haben so Meetings jetzt, das glaubst du nicht. Geleitet wird das von einem Manager. Der Teamleiter muss kommen, von jedem Team, und die anderen können online teilnehmen, oder sie kommen in die Firma, grad wie jeder lustig ist. Aber glaub nicht, dass da jemand kommt – online. Mein Teamleiter hat das Ganze verpennt, der war zwanzig Minuten zu spät da – online. Da war er dann auch alleine von seinem Team, nee wirklich, das kann sich keiner vorstellen. Na ja, zu essen gabs und zu trinken. Also sagen wir mal: zu essen. Und viele waren da nicht, also gabs genug. Aber sonst, nee ganz ehrlich, keinen Tag zu früh bin ich da weg. Das will sich keiner mehr antun.“

Oder oben rechts, der Ex-Alleinerziehende. Mit den drei alleinerziehenden Töchtern. Eine steht heute im Hof mit ihrem Jungen und klingelt. Opa winkt vom Balkon. Eine Minute später kommt er raus und fragt aufgeräumt: „Und? Wo geht‘s hin? Pizza, Schnitzel, Hamburger?“

„Sorry, wir haben grad gegessen“, sagt die Tochter und steigt ein, als Opas Auto geblinkt und mit einem Stöhnen die Türen aufgemacht hat. Gedankenverloren steigen Opa und Enkel zu.

Aber wo fahren die jetzt hin? Was machen die jetzt – der eine hungrig, die zweite schuldig an der verratzten Unternehmensplanung, der dritte den zwei anderen einfach nur ausgeliefert? Ich werde es niemals erfahren! Manchmal will ich auch gar nicht mehr zuhören. Wenn es spannend wird, gehen die Leute rein und machen die Balkontür zu oder sie steigen in ihre verdammten Autos und streiten sich da drin weiter. Ich wünschte, ich hätte auch so ein Buch, in das ich mich vergraben könnte und so tun, als hätte ich keine Ohren.